no_way_out (German Edition)
Während ich mich ausgezogen hatte, war sie in einen Arztkittel geschlüpft und hatte sich Handschuhe übergezogen. Im Gegensatz zu Jake und Doc Walter schockte sie der Anblick meines Körpers sichtlich.
» Purgatorium «, las sie. »Du kannst Latein?«
»Dieses eine Wort«, sagte ich. »Und noch ein paar unwichtige, die ich aus Asterix und Obelix kenne, aber ich hatte keine Lust auf ein AVE auf meinem Oberarm.«
Margot grinste etwas schief. »Ich fange dann mal an.« Vorsichtig untersuchte sie die Schürfungen, Prellungen und Quetschungen an meinem Oberkörper. Als sie bei meinen Armen anlangte, entdeckte sie das I’m in hell über der Narbe an meinem Handgelenk. »Bist du da irgendwann wieder rausgekommen?«, fragte sie leise. »Aus der Hölle?«
»Denke schon.« Ich starrte auf die verblichenen Buchstaben. »Aber seit ein paar Tagen stecke ich wieder mittendrin.«
Sie nickte. »Und du verstehst nicht, warum.«
»Weil ich ein ziemlich kaputter Typ bin?«
Plötzlich wirkte sie furchtbar traurig. »Wie kaputt du bist, weiß ich nicht. Wir sind ja alle auf irgendeine Art kaputt.«
In ihren Augen standen Tränen. Mir wurde klar, dass sie von ihrem Sohn sprach. Keine Ahnung, wieso einer kaputt war, der in so einem Haus wohnte, bei so einer Frau.
»Du bist mittendrin, weil jemand entschieden hat, dass du da drin sein sollst.«
»Kommen Sie mir jetzt nicht mit Gott«, bat ich sie. »Und dass Sie mich retten wollen und der ganze Scheiß. Das hat schon mal einer gesagt.«
Dieser Eine war der Grund, weshalb ich das lateinische Wort für Fegefeuer kannte. Beim Versuch, den Teufel aus mir hinauszuprügeln, hatte er das Wort immer und immer und immer wieder von sich gegeben. Und jetzt schmorte er hoffentlich darin. Für alle Zeiten.
»Nein, Gott hat damit nichts zu tun.«
Immerhin. Nach all dem Verschwörungskram in der Lagerhalle hätte so eine Gott-bestraft-dich-Kiste mir den Rest gegeben.
»Wer dann?«, fragte ich.
»Schon mal was vom Bund für eine tatkräftige Nation gehört?«, fragte Margot. »Dem BtN?«
Ich schüttelte den Kopf. Mit Bünden und tatkräftigen Nationen hatte ich nichts am Hut.
Margot begann, den Verband von meinem Bein zu lösen. »Die Mitglieder sind einflussreiche Vertreter aus Politik und Wirtschaft. Sie plädieren für mehr Leistung, mehr Eigenverantwortung und weniger Staat.«
»Das tun doch heute fast alle«, rief Smiley aus seiner Ecke.
»Ja, das tun viele, aber zurzeit niemand so intensiv wie der BtN.«
»Sind ziemlich krank, diese Leute, findet ihr nicht?«, fragte Smiley. »Wollen mehr Gesetze für andere und keine für sich.«
»Leider denken die meisten nicht wie du.« Margot seufzte. »Manche scheinen überhaupt nicht zu denken.«
Sie schaute sich meine Wunde an und unterbrach ihre Behandlung, um ein beeindruckendes Arsenal an Verarztungsmaterial zu holen. Ich entschied, nicht hinzugucken, als sie sich an die Wunde an meinem Bein machte, sondern konzentrierte mich auf das, was sie sagte, um den Schmerz wenigstens teilweise auszublenden.
»Seit knapp zwei Jahren läuft eine unglaubliche Hetzjagd gegen jugendliche Alternative, Außenseiter und Obdachlose oder, anders gesagt, gegen alles, was nicht der Norm entspricht.«
Willkommen in meiner Welt, dachte ich, hielt jedoch meinen Mund. Ich hatte das Foto ihres Sohnes gesehen, den Schmerz in ihren Augen. Vielleicht wusste sie mehr über diese Welt, als ich auch nur ahnen konnte.
»Diese Jagd wird ganz geschickt orchestriert. Unter anderem von Mitgliedern vom BtN.«
»Diesem komischen Bund?«
»Ja. Ihr Sprecher Klaus Peter Niedermeier fährt eine sehr aggressive Medienkampagne.«
»Warum tun sie das?«, fragte Smiley.
»Damit schüren sie die Vorurteile gegenüber einer Bevölkerungsgruppe, die sogenannten rechtschaffenen Bürgern ein Dorn im Auge ist. So lange, bis die Situation eskaliert. In dieser aufgeladenen Stimmung fallen dann Rufe nach Repression, strengeren Gesetzen und härteren Maßnahmen auf einen fruchtbaren Boden. Das ist ganz im Sinne dieses Bundes, genau das, was er anstrebt.«
Ich dachte an die verschärften Kontrollen, daran, wie man mich und andere aus unserer Szene von öffentlichen Plätzen verwiesen hatte, zuerst von Bahnhöfen, dann aus Fußgängerzonen, aus Parks, bis wir uns am Ende fragten, wo wir uns überhaupt noch aufhalten konnten. Ich erinnerte mich daran, wie ich angepöbelt, angerempelt und angespuckt worden war. Von Menschen, die glaubten, sie hätten ein Recht dazu, weil wir für sie
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