no_way_out (German Edition)
sie, ob sie ihren Laptop braucht, und bitte sie, euch zu zeigen, wo ihr Infos über euch findet.«
»Ach, der große Bruder wirft schon wieder mit Befehlen um sich.«
Jasper fuhr herum, als er Johannas Stimme hörte. »Auch schon wach?«
Sie streckte ihm die Zunge raus und beide lachten. Trotz ihrer Sticheleien konnte man fühlen, wie sie sich mochten. So war es also, wenn man mit seiner Schwester zusammenlebte. So hätte es mit Sina sein können.
»Sagt bloß nicht, ihr habt schon gefrühstückt.« Smiley stand unter der Tür und versuchte, den Empörten zu spielen, was ihm nicht ganz gelang. Die Verlegenheit stand ihm zu offensichtlich im Gesicht und irgendwie waren ihm Arme und Beine im Weg, als er sich an den Tisch setzte. Dann würdigte er trotz seiner Bemerkung das Essen mit keinem Blick, sondern schaute entrückt zu, wie Johanna uns eine Kurzeinführung ins Tablet gab. Ich entschied, dass es besser war, wenn ich gut aufpasste, was sie sagte, denn ob Smiley sich an auch nur eine ihrer Erklärungen erinnern würde, war mehr als fraglich.
Was mir Jasper gezeigt hatte, war längst nicht alles gewesen. Viel langsamer als er arbeitete ich mich von Artikel zu Artikel. Ich konnte meine ganze schäbige Lebensgeschichte nachlesen. Stand alles da. Alles. Bis hin zu den vollgepissten Schlafanzughosen. Ich versuchte, die Seite wegzuschieben, bevor Johanna sie lesen konnte, aber ich war viel zu langsam. Johanna legte ihre Hand auf meine und hielt mich davon ab. »Hab ich alles schon gesehen. Brauchst dich nicht zu schämen. Er war das Schwein, das dir diese schrecklichen Narben zugefügt hat, nicht wahr?«
Mit dem Schwein meinte sie den schwarzen Mann. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich keine Antwort über die Lippen gebracht. Johanna erlöste mich und rief eine neue Seite auf. Ich hielt den Atem an. Als könnte das Bild verschwinden, wenn ich mich bewegte, schaute ich in das Gesicht meiner Schwester. Das Foto musste gemacht worden sein, nachdem sie mich ins Heim gebracht hatten. Sie schien etwas älter, nicht viel, vielleicht ein oder zwei Jahre. Man sah, dass der Fotograf sie aufgefordert hatte zu lächeln. Sie hatte brav gehorcht, doch etwas fehlte. Ihre Augen lächelten nicht. Ich wusste, warum, und hätte beinahe geheult. Den Text zu lesen schaffte ich nicht. Selbst wenn wir zusammengeblieben wären, wäre es zwischen uns nie so gewesen wie zwischen Jasper und Johanna.
»Kannst …« Ich räusperte mich. »Kannst du mir das Foto ausdrucken?«
»Klar doch.«
Ich hörte das Mitleid in Johannas Stimme und ertrug es nicht. Ich verdiente kein Mitleid!
»Du könntest sie auch einfach besuchen, wenn das hier vorbei ist«, mischte sich Smiley ein.
»Kann ich nicht!«, fuhr ich ihn an.
»Und warum nicht?«
»Ich bin schuld. Ich hab sie losgelassen.«
Danach musste sie ohne mich beim schwarzen Mann bleiben. Sie würde mir das nie verzeihen. Nie.
»Du warst elf!«, versuchte mich Johanna zu beruhigen. »Ein Kind.«
»Hör auf!«, schrie ich sie an. »Ich war elf, na und? Meine Schwester war acht. Ich hätte sie nie in dieses Boot steigen lassen dürfen.«
»Es war ein Unfall«, sagte Smiley. »Ich habe den Artikel gelesen. Hörst du? Es war ein Unfall.« Er klang, als wolle er jedes einzelne Wort für immer in meinen Schädel einhämmern.
»Es war kein Unfall«, flüsterte ich. »Ich war schuld.«
Ich habe Angst . Selbst wenn Sina es nicht gesagt hätte, hätte ich es gewusst. Die Angst stand in ihrem Gesicht, wohnte in ihrem schmächtigen Körper, vibrierte in ihrer Stimme. Jeden einzelnen Tag. Auch in den Ferien, denn Ferien waren für den schwarzen Mann zwar ein Weggehen von zu Hause, aber nicht ein Abkehren von seinen Gewohnheiten. Er ließ mich jeden Abend lesen und tagsüber redete er vom Segen der frischen Seeluft, von körperlicher Ertüchtigung und von der Kraft der Starken. Er marschierte stundenlang mit uns auf der Insel herum und verlangte, dass wir sämtliche Baum- und Vogelarten auswendig lernten. An dem Tag, an dem ich meine Schwester losließ, waren wir auf einer Inselwanderung. Ich fing mir eine aufgescheuerte Blase an den Füßen ein und war dem schwarzen Mann zu langsam. Er trieb mich mit spöttischen Bemerkungen und Schlägen an. Seine Fingerknöchel knallten auf meinen Schädel, seine Worte setzten den Hass in mir frei. Am Ende der Wanderung gönnte er sich ein Glas Most in einem Restaurant am Wasser, während Sina und ich draußen warten mussten. Ich sah das Boot am Steg, das Ufer
Weitere Kostenlose Bücher