no_way_out (German Edition)
auf der anderen Seite, greifbar nah.
»Möchtest du mit mir Boot fahren?«, fragte ich Sina.
Ihre Augen leuchteten auf, nur kurz, dann warf die Angst vor dem Verbotenen und der Strafe des schwarzen Mannes wieder ihren Schatten auf ihr Gesicht.
»Dort drüben gibt es ihn nicht mehr«, flüsterte ich und zeigte auf das andere Ufer.
»Aber …«
»Dort drüben ist alles anders. Dort drüben ist die Freiheit.«
Freiheit. Das war für mich ein Leben mit Sina, ohne den schwarzen Mann, ohne das Lesen, ohne die Schläge, ohne die Angst davor, dass der schwarze Mann eines Abends mein Zimmer ausließ und durch Sinas Tür ging. Freiheit! Wie oft hatte ich mich danach gesehnt! Und jetzt war sie da, nur ein paar Steinwürfe entfernt. Mein Herz klopfte wie wild, aber ich wusste, dass mich nichts davon abhalten konnte, es zu versuchen. In meiner Fantasie war das andere Ufer plötzlich so etwas wie das gelobte Land.
»Ich will mit dir in die Freiheit«, sagte Sina ernst.
Ich beobachtete den schwarzen Mann aus meinen Augenwinkeln. Er würde sein Glas leeren, bezahlen und zur Toilette gehen. Das tat er immer. Auch an jenem Tag. Als er aus meinem Blickfeld verschwand, griff ich nach der Hand meiner Schwester. »Jetzt«, flüsterte ich und wir rannten los.
Das Boot sah sehr alt aus und es hatte Wasser auf dem Boden. Sina wollte nicht einsteigen. Einen Augenblick lang hatte auch ich die Panik. Ich konnte nicht schwimmen. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben siegte.
»Es ist nur ein bisschen Wasser. Alle Boote haben ein bisschen Wasser auf dem Boden«, beruhigte ich Sina.
»Und wenn wir untergehen?«
»Dann halte ich dich fest und lasse dich nicht los. Aber wir werden nicht untergehen.«
»Versprochen?«
Es war nicht weit ans andere Ufer. Wir würden nicht untergehen! »Versprochen«, sagte ich.
Ich war ihr großer Bruder. Sie vertraute mir. Vorsichtig stiegen wir ein. Es schaukelte nur ein bisschen. Ich stieß das Boot ab und begann zu rudern.
Schon nach wenigen Metern drang Wasser durch den Boden. Ich hätte um Hilfe rufen müssen, aber ich tat es nicht, trotz aller Angst. Ich wollte so sehr von diesem Mann weg und ich wusste noch nicht viel über das Sterben, nur, dass ich lieber sterben würde, als beim schwarzen Mann zu bleiben.
Das Boot füllte sich. Ich ruderte und kam nicht voran. Beim Steg brüllte der schwarze Mann. Das andere Ufer rückte unendlich weit weg. Die ganze Zeit schaute mich Sina nur an. Sie schrie nicht und weinte nicht, sondern griff nach meiner Hand. Ich hielt sie fest. Als das Boot unterging, waren unsere Finger eng ineinander verschlungen. Ich strampelte mit den Beinen und versuchte, Sina über Wasser zu halten. Hunde konnten schwimmen, obwohl sie es nie gelernt hatten, andere Tiere konnten schwimmen, also musste ich das doch auch können. Es hatte immer so leicht ausgesehen. Eine Weile gelang es mir, oben zu bleiben, dann zog es mich hinab in die Tiefe. Mit mir meine Schwester. Ich kämpfte dagegen an. Das Wasser war stärker. Ich atmete ein. Es kam keine Luft. Nur ein Licht. Ich ließ Sinas Hand los.
Wir wurden beide gerettet. Eine Woche später brachte mich eine Frau ins Heim. Sie hatte rote Haare und ein Muttermal neben ihrem Mund.
»Was weißt du schon?« Ich schrie immer noch.
Smiley packte mich an den Schultern. »Ich weiß, dass es langsam Zeit wäre, die Dinge zu sehen, wie sie waren. Du warst ein Kind. Du wollest deine Schwester nicht umbringen. Du hast losgelassen, weil du nicht anders konntest.« Er holte Luft. »Und du solltest schwimmen lernen.«
Dazu war es zu spät. Ich war der eiskalte Entführer. Der durchgeknallte Killer. Der Typ mit der verkorksten Kindheit, aus dem nichts anderes hatte werden können. Stand alles im Netz. Ich würde im Knast landen, und dort gab es kein Übungsschwimmbecken für Anfänger und auch keine Chance, kleine Schwestern zu besuchen, die man im Stich gelassen hatte. Schon gar nicht würde sie mich angrinsen und mir lachend die Zunge rausstrecken. Ich stand auf und verzog mich ins Wohnzimmer. Der ganze Müll in diesem verdammten Internet konnte mir gestohlen bleiben.
Walter T. @Eidgenoss
#Brückenspringer waren keine Helden, sondern Kriminelle der schlimmsten Sorte. Sie haben bekommen, was sie verdient haben.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich auf dem Sofa lag und Löcher in die Decke starrte. Ich wusste nicht, wie weh sterben tat, immer noch nicht, aber bestimmt konnte es nicht mehr wehtun als das, was ich fühlte. Aus der
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