Noah: Thriller (German Edition)
Niemand mehr versuchte, zu dem Zelt vorzudringen.
»Die Lage ist wieder geklärt. Und die, die es herausgeschafft haben, sind ihnen egal. Sieh nur.«
Die Zaunwand in der linken äußersten Ecke des Platzes schwankte bedrohlich, weil mehrere Männer sie zu überklettern versuchten. Noch war die Menge verhältnismäßig ruhig und formierte sich vor dem Zelteingang zu einer nahezu geordneten Reihe. Niemand bedrängte die Schwester mit dem Klemmbrett, die im Augenblick keinen durchließ. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ein kleiner Streit erst Tumult, dann Panik auslöste und die Massen über die Gitter stürmen und die Zeltplanen einreißen würden.
»Lass uns zurückgehen«, sagte Alicia und wollte sich abwenden, doch Marlon hielt sie am Arm fest.
»Zurück? Etwa durch das Kackloch zurück in die Endstation? Weshalb? Verrecken kannst du auch hier draußen.«
»Hast du einen besseren Plan?«, fragte sie.
»Vielleicht.«
Er zeigte auf einen hinter dem Zelt in der offenen Lagerhalle abgestellten Lkw. Quer über die Windschutzscheibe lief ein Riss. Die Vorderreifen waren platt.
»Was ist damit?«, fragte Alicia.
»Da wohnt Heinz.«
Heinz?
Dunkel erinnerte sich Alicia an den komischen Namen, den Jay letzte Nacht erwähnt hatte.
»Heinz ist ein netter Mann. Er ist gut zu uns.«
»Er sorgt für die Müllkinder.«
»Und?«
»Und das ist sein Zuhause. Er wohnt in dem Laster, mit denen Worldsaver die Medikamente transportiert.«
»Du willst einfach zu ihm gehen?«
»Ja. Er kann uns alles geben. Das Mittel gegen die Seuche. Und Nahrung für dein Baby.«
Automatisch drückte sie Noel etwas fester. »Siehst du, wie viele da unten um Einlass betteln? Wir kommen erst gar nicht aufs Gelände, geschweige denn bis zum Lastwagen. Und selbst wenn? Wieso sollte dieser Mann ausgerechnet uns helfen?«
»Weil Heinz ein guter Mensch ist«, sagte Jay und lächelte zuversichtlich.
»Quatsch.« Marlon trat nach einem Pappbecher vor seinen Füßen. Staub wirbelte auf und bildete eine schmutzige Wolke.
»Gut ist er nicht. Aber ein Geschäftsmann.«
»Geschäftsmann? Wir haben kein Geld!«, sagte Alicia mit verzweifelter Stimme. »Wir haben ihm nichts anzubieten.«
»Oh doch«, sagte Marlon ernst, während sein Blick langsam über Alicias Körper wanderte.
15. Kapitel
Rom, Italien
Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. Musterten einander. Noah mit ungläubigem, argwöhnischem Blick. Der alte Mann mit einem Ausdruck von Hoffnung in den wachen Augen, auf der Suche nach Anzeichen des Wiedererkennens in Noahs Gesicht.
Zaphire war der Erste, der die stumme Konfrontation nicht mehr aushielt, sich abwandte und auf seinen Krücken zu einem Schrank humpelte. Er nahm einen Bademantel heraus und reichte ihn Noah. »Setz dich doch«, sagte er und wies auf das Sofa.
Noah griff weder nach dem Mantel, noch setzte er sich.
»Dir ist kalt. Sei nicht dumm, Junge. Schlage nie einen Vorteil aus, selbst wenn er dir von einem Feind gewährt wird«, formulierte Zaphire eine jener Lebensweisheiten, von denen Noah in den letzten Stunden mehr als genug gehört hatte. Wenn auch nur in seinem Kopf!
»Obwohl ich natürlich nicht dein Feind bin«, ergänzte Zaphire und ließ den Mantel zu Boden gleiten.
Sondern mein Vater? Wenn das stimmte, wer war dann der Sterbende im Waldbungalow gewesen?
Noah sah dem Alten dabei zu, wie er sich mit zusammengebissenen Zähnen auf dem Sessel niederließ. Dazu musste er eine der Krücken aus der Hand nehmen.
Die Schmerzen, unter denen er unverkennbar litt, waren ganz sicher keine normalen Begleiterscheinungen seines Alters. Auch Zaphire musste sich erst kürzlich eine schwere Verletzung zugezogen haben.
War da nicht von einem Anschlag die Rede gewesen?, dachte Noah. Er musterte den alten Mann, der sich eine Hand in Höhe des Herzens auf den Brustkorb presste. »Sie wollen mein Vater sein? Beweisen Sie es.«
»Hm.« Zaphire atmete tief aus. »Immer wieder der gleiche Befehl. Jedes Mal, wenn wir uns treffen.«
Jedes Mal?
Die Hand des Alten wanderte in die Innentasche seines Jacketts, um mit einem Foto zwischen den Fingern wieder aufzutauchen.
Er reichte es Noah.
Es war ein Gruppenbild von etwa zwanzig Jungen und Mädchen, zweifellos ein Klassenfoto einer jüngeren Jahrgangsstufe.
In der hintersten Reihe, dort, wo der Fotograf die Größeren platziert hatte, umrahmte ein roter Kreis zwei komplett identisch aussehende Gesichter. Der Anblick des Fotos hatte eine verstörende Wirkung, nicht
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