Noah: Thriller (German Edition)
interessieren.
»Wirst du mich besuchen?«, fragte er David.
»Nein. Eher nicht.«
Er nickte. Es war gut, dass er ihn nicht anlog. Schmerzlich, aber gut.
Er spürte, wie der Ältere näher kam.
»Ich bin jetzt erst einmal in den Niederlanden. Die haben da ein hartes Pensum. Ich könnte nur in den Sommerferien zurück, also nur ein Mal im Jahr. Und bis dahin …«
»… wäre es eh zu spät«, bestätigte John und drehte sich zu seinem einzigen Freund, der jetzt auf eine andere Schule nach Oosterbeek wechseln würde, während er hier im Internat allein versauerte.
Weil es hier die beste Betreuung gab. Für Sonderschüler.
Für Patienten.
Der Jüngere kletterte vom Fensterbrett. Sie umarmten sich ein letztes Mal, dann verließ David das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er wartete, bis David aus dem Internatsgebäude trat, den schweren Koffer alle zehn Schritte von einer Hand in die andere wechselnd.
Das Letzte, was er von ihm sah, war, wie er in eine schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben stieg. Dann klingelte der Wecker seiner Armbanduhr, der ihn ermahnte, auf den Plan an der Tür zu sehen, in den die Schulleitung täglich alle wichtigen Termine für ihn eintrug.
Dr. Dohrmann. 11.00 Uhr.
In einer halben Stunde würde der Psychiater im Aufenthaltsraum auf ihn warten, um die Auswertung der Tests und die Einstellung der Medikamente zu besprechen.
Ohne den Alarm hätte er die Sitzung womöglich wieder vergessen. So wie er alles vergaß, was er nicht regelmäßig tat. Weil sich sein Gedächtnis löschte.
Der Langzeitspeicher.
Er seufzte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Spätestens alle sechs Wochen. Manchmal sogar früher.
Er trat ans Fenster, zog die Jalousien auf und erhaschte einen letzten Blick auf die Rücklichter der Limousine, die hinter dem Tor auf die Landstraße abbog. Dann nahm er wieder das Bild zur Hand.
Wie albern, dass er sich ein Andenken bewahrt hatte.
Wie nutzlos!
Der Jüngere wusste, er würde sich schon sehr bald nicht mehr an den Tag des Abschieds erinnern können. Wie überhaupt an die Tatsache, dass er jemals einen Zwillingsbruder gehabt hatte.
13. Kapitel
»David«, flüsterte Noah, der seine kalte Umgebung und damit die Gefahr in seinem Rücken vollständig ausgeblendet hatte.
Es war ihm nicht möglich, seinen Blick auch nur für eine Sekunde von der Leiche seines Bruders abzuwenden, obwohl ihm die Pistole in seinem Nacken immer fordernder gegen die Halswirbelsäule drückte.
David.
Deshalb also hatte er in einer seiner Erinnerungen sich selbst beim Sterben zugesehen. Und deshalb hatten die anderen ihn für tot gehalten – der kranke Alte im Waldbungalow ebenso wie Kilian Brahms –, sie hatten ihn mit seinem Zwillingsbruder verwechselt. Mit Dr. David Morten. Achtunddreißig Jahre alt, US-amerikanischer Biophysiker sowie Molekular- und Nanobiologe.
Es war sein Koffer, den ich in der Suite des Adlon geöffnet habe. Sein Handy, sein Geld. Seine Pässe.
Und es war sein Bild, das David gemalt und das Noah sich vor Jahren als Andenken an ihn bewahrt hatte.
Und dennoch habe ich ihn vergessen.
Wegen meiner Krankheit.
Noah fröstelte, und das lag nicht allein an den eisigen Temperaturen des Kühlraums. Nun klärte sich auch, weshalb er keinerlei Erinnerungen an eine akademische Bilderbuchkarriere hatte. An das Studium der Physik an der Tufts University; an die Promotion in Princeton über flüssige Mikrochips und ihre Anwendung für die medizinische Patientenkontrolle. Nicht er war der anerkannte Experte für Infektionskrankheiten, Träger zahlreicher Auszeichnungen, insbesondere für die Forschungen am Pest- und Herpeserreger.
Sondern David.
»Ausziehen«, verlangte die Frau auf Englisch hinter ihm und entlarvte sich damit als Profi. Sie war nicht so erfahren wie er in solchen Tätigkeiten, das spürte Noah an der bemühten Coolness in ihrer dunklen Stimme, die etwas dumpf klang, als spräche sie durch ein Taschentuch, und deren Timbre ein geringes Maß an Unsicherheit entlarvte. Aber sie wollte keine Zeit damit verschwenden, ihn abzutasten, um am Ende vielleicht doch eine Waffe zu übersehen. Ein kluger Schachzug.
Und eine gute Nachricht!
Hätte man es auf seinen Tod abgesehen, hätte sie ihn gleich an Ort und Stelle erledigen können, weswegen Noah ihrem Befehl bedingungslos Folge leistete.
Im Augenblick war er ohnehin willenlos. In Anbetracht der Erkenntnisse über seine Vergangenheit erschien ihm sein Schicksal vollkommen
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