Noah: Thriller (German Edition)
erkennen. Das Blut, das ihm aus Mund und Nase getropft war, hatte den Teppich dunkel verfärbt, was Noah an die Suite im Adlon denken ließ.
Ich habe gesehen, wie mein Bruder erschossen wurde.
Unbewusst fasste er sich an die Schulter, spürte noch einmal, wie die zweite Kugel des Scharfschützen durch seine Haut drang.
Dann bin ich geflohen. Durch die Diskothek auf die Straße. In die U-Bahn, wo mich Oscar fand.
Der Fleck neben Altmanns Kopf breitete sich immer noch aus, was den Mann, der mit seinen rahmengenähten Schuhen direkt neben der Lache stand, nicht weiter zu beeindrucken schien.
»Hallo«, begrüßte er Noah mit einem freundlichen Lächeln. Er trug einen dunkelblauen Maßanzug mit Nadelstreifen und ein weißes Hemd ohne Krawatte mit goldenen Manschettenknöpfen.
»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Viel zu lange, fürchte ich.«
Noah hörte, wie hinter ihm die Tür geschlossen wurde. Er drehte sich um. Die Frau hatte den Raum verlassen und vermutlich vor dem Eingang Position bezogen.
»Wer sind Sie?«, fragte Noah. Etwas an dem älteren Mann, der sich auf Krücken gestützt hielt, kam ihm bekannt vor, aber es waren nicht der krumme Rücken, die abstehenden Ohren oder die schiefen Zähne.
Es war seine Stimme!
»Fast zwei Monate ist es schon her«, sagte er in exakt dem altväterlichen Tonfall, der Noah in letzter Zeit so häufig im Kopf umhergespukt war. »Also wirst du dich an mich nicht mehr erinnern, oder?«
Nein.
»Kennen wir uns?«
Der alte Mann lächelte traurig, wie jemand, der sich für lange Zeit von einem geliebten Menschen verabschieden will, dann humpelte er Noah entgegen und sagte: »Mein Name ist Jonathan Zaphire. Ich bin dein Vater.«
14. Kapitel
Manila, Philippinen
Tatsächlich war es Marlon gelungen, sie unbehelligt auf den Parkplatz vor der Lagerhalle in Quezon City zu leiten, wo die Ärzte der Hilfsorganisation Worldsaver ihr riesiges Praxiszelt errichtet hatten. Hoch und breit wie ein Flugzeughangar baute es sich vor ihnen auf, kaum dass sie durch den Maschendrahtzaun am Rande des Containerfriedhofs geschlüpft waren. Nun standen sie auf einem kleinen Hügel und blickten auf die Zeltanlage hinab.
»Es ist voll mit Betten und Medikamenten für mindestens fünfzig, wenn nicht einhundert Menschen«, hatte Marlon versprochen, und auch damit hatte er die Wahrheit gesagt.
Leider.
Einhundert Betten waren viel zu wenig für die hilfesuchenden Massen. In Alicia war jede Hoffnung gestorben, ihr Baby über den Tag zu bringen.
»Es muss irgendwo ein Leck geben«, gab Marlon die einzig vernünftige Erklärung für die Tragödie, die sich vor ihren Augen abspielte. »Irgendeinen unbewachten Ausgang. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb so viele hier sind.«
»Ich zähle fünfhundertzweiunddreißig«, sagte Jay, der anscheinend das gemacht hatte, was Gustavo ihr gegenüber einmal als »Gedächtnisfotografie« bezeichnet hatte. Ein mentales Bild, das ihr Sohn mit den Augen schießen konnte, um es anschließend mit seinem Gehirn in seine Bestandteile zu zerlegen. Manchmal war Alicia die Begabung ihres Kleinen etwas unheimlich, doch im Moment sorgte sie sich eher über das Ergebnis seiner Analyse.
Fünfhundertzweiunddreißig Menschen?
Der Platz war zur Straße hin mit mannshohen Gitterwänden gesichert, eine zweite Reihe stand unmittelbar vor dem Zelteingang, wodurch der Eindruck eines Käfigs entstand, in dem die Wartenden eingepfercht waren.
Alicia spürte ein Brennen in den Augen und wandte sich ab, sah hinauf zu den Hochhäusern mit ihren verspiegelten Fassaden. Um ihre Würde zu bewahren und nicht zu weinen, nicht vor ihrem Ältesten, versuchte sie sich irgendetwas Positives in Erinnerung zu rufen, weil Schwester Silvania, die sie manchmal im Slum besuchte, doch gesagt hatte, positive Gedanken wären gut für die Muttermilchproduktion. Und die war das Einzige, was Noel heute noch bekommen würde, wenn überhaupt. Denn von Worldsaver konnte sie keine Hilfe erwarten. Niemand von den Hunderten, die sich vor dem verschlossenen Eingang drängten, konnte das.
Es sind zu viele.
Viel zu viele, die aus einem ungesicherten Ausgang des Slums den Weg nach draußen gefunden haben mussten. Oder aus irgendeinem der tausend anderen Elendsviertel des Großraums Manila kamen.
»Wieso sind hier keine Soldaten?«, wollte Jay wissen.
»Weil sie das Leck gestopft haben«, antwortete Marlon und zeigte auf die Zufahrtsstraße vor ihnen. Bis auf einige streunende Hunde war sie leer.
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