Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
durch das Labyrinth der Schließfachgänge, um eine Ecke, noch eine Ecke, noch eine, stößt gegen Rucksäcke und Schultern, kümmert sich nicht um die Blicke der kaugummikauenden Schließfachgroupies. Ich kapiere erst gar nicht, wohin er will. Dann wird mir klar, dass er überhaupt kein Ziel hat. Er rennt nur. Rennt davon.
» Hey, Ted!«, brülle ich hinter ihm her. Wir sind in einen menschenleeren Flur eingebogen, der zum Werkraum führt.
Er dreht sich zu mir um und ich sehe seine Augen aufblitzen. Wut kämpft in ihm gegen Schock und Verzweiflung.
» Hast du davon gewusst?«, fragt er mich.
Ich schüttle den Kopf.
» Dann weißt du auch nicht, wie lang das schon geht?«
» Nein. Total neu für mich.«
» Ist auch egal. Sie kann sich ranschmeißen, an wen sie will. Mich kümmert das nicht mehr. Wir haben Schluss gemacht, weißt du ja.«
Ich nicke. Ich frage mich, ob er wirklich glaubt, was er da sagt. Er lügt sich selbst in die Tasche, erst recht mit dem nächsten Satz, der kommt.
» Hab gar nicht gewusst, dass sie auf Footballspieler steht.«
Ich auch nicht. Aber Ted will von mir gar keine Antwort hören.
» Ich muss los«, sagt er und stapft davon.
Ich wünschte, mir würde noch irgendetwas einfallen, was ich ihm sagen könnte, etwas das ihn ein bisschen aufmuntert.
Ich schaue auf die Uhr. Schon siebzehn Minuten. So lange ist der Unterricht bereits aus. Über eine andere Treppe stürme ich wieder hoch in den ersten Stock. Die Schließfächer erstrecken sich in absteigender Folge vor mir: 310 … 299 … 275 …
262 .
Niemand da.
Ich suche ringsum nach Noah. Die Gänge liegen inzwischen einsam und verlassen da. Alle sind entweder nach Hause gegangen oder in einer der vielen AGs beschäftigt. Das Leichtathletik-Team sprintet bei einem Schulflurübungslauf an mir vorbei. Ich stehe noch fünf Minuten herum und warte. Ein Mädchen, das mir vorher noch nie aufgefallen ist, mit Haaren in der Farbe von Honigtau, kommt vorbei und sagt: » Der ist vor zehn Minuten gegangen. Er wirkte enttäuscht.«
Ich fühle mich wie der totale Versager. Ich reiße eine Seite aus meinem Physikheft und schreibe eine Entschuldigung. Ich muss fünfmal neu anfangen, bis ich zufrieden bin. Ich muss es irgendwie hinkriegen, interessant und interessiert zu klingen, ohne dabei bescheuert rüberzukommen. Während ich schreibe, hoffe ich immer noch, dass er vielleicht auftaucht. Schließlich stecke ich den Zettel durch einen Spalt in Schließfach 262 .
Dann laufe ich zu meinem eigenen Schließfach hinunter. Joni kann ich nirgendwo entdecken, und das ist gut so. Ich habe noch nicht mal den Schimmer einer Ahnung, was ich zu ihr sagen soll. Ich kann sehr gut verstehen, dass sie ihre Geschichte mit Chuck bisher vor Ted geheim gehalten hat. Aber ich kann nicht verstehen, warum sie auch mir nichts erzählt hat. Das tut weh.
Als ich die Tür meines Schließfachs zudonnere, geht Kyle vorbei.
Er nickt mir zu und sagt Hallo. Er lächelt fast.
Ich bin völlig platt.
Er geht einfach weiter.
Mein Leben ist total verrückt und daran kann ich nichts ändern. Nicht die kleinste Kleinigkeit.
Die wiedergefundene Sprache
» Vielleicht hat er ja zu jemand anders Hallo gesagt«, sage ich.
Es ist ein paar Stunden später. Ich unterhalte mich mit Tony und erzähle das ganze Drama dieses Nachmittags der einzigen Person, die nicht dabei war.
» Und das Lächeln– na ja, vielleicht hat er ja Lachgas inhaliert«, füge ich hinzu.
Tony nickt unverbindlich.
» Ich hab keine Ahnung, warum Kyle plötzlich wieder anfangen sollte, mit mir zu reden. Ich bin immer noch der Gleiche wie vorher. Und er ist nicht der Typ, der seine Haltung in solchen Dingen ändert.«
Tony sieht mich achselzuckend an.
» Ich würde Noah gern einfach anrufen, aber dafür kennen wir uns noch nicht gut genug. Womöglich würde er gar nicht wissen, wer ich bin. Vielleicht kann er sich gar nicht an meinen Namen erinnern. Oder an meine Stimme? Besser, ich warte bis morgen, oder. Ich will nicht zu neurotisch wirken.«
Tony nickt wieder.
» Und dann Joni. Was hat sie sich bloß dabei gedacht, einfach so mit Chuck rumzuknutschen? Soll ich ihr sagen, dass ich es mitgekriegt habe, oder soll ich so tun, als hätte ich es nicht mitgekriegt, und insgeheim mitzählen, wie oft wir miteinander reden, bis sie es mir endlich erzählt? Und mit jeder Minute, die verstreicht, ohne dass sie mir die Wahrheit sagt, gereizter werden?«
Tony sieht mich wieder achselzuckend an.
» Du darfst gern
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