Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
verdutzt an, nickte und stieg extra ein zweites Mal die Leiter hoch, um es für mich zu holen. Als er wieder unten war, standen wir noch eine Minute beieinander– ich fragte ihn, ob er auch » Alles, was uns fehlt« und » Alt genug, um fremdzugehen« gelesen habe, und er antwortete nein, » Die verlorene Sprache der Kräne« sei sein erstes Buch von David Leavitt. Dann ging er zu den Hochglanzfotobänden weiter, während ich mich in die Belletristik versenkte.
Und das wär’s dann fast gewesen. Wir hätten uns nie näher kennengelernt, wir wären nie Freunde geworden. Aber als ich am Abend in den Zug einstieg, um zurückzufahren, sah ich ihn allein in einer Dreierreihe sitzen, mit dem Buch, das wir beide gekauft hatten; er war schon halb damit durch.
» Und– taugt’s was?«, fragte ich, als ich im Gang neben seiner Sitzreihe angekommen war.
Zuerst kapierte er gar nicht, dass ich mit ihm sprach. Dann blickte er hoch, erkannte mich und lächelte schüchtern.
» Es ist ausgezeichnet«, antwortete er.
Ich setzte mich zu ihm und wir redeten über alles Mögliche. Ich fand heraus, dass er in einem Ort ganz in der Nähe lebte. Wir nannten uns unsere Namen. Wir fühlten uns wohl miteinander. Ich spürte, dass er nervös war, aber ich wusste nicht, warum.
Ein hübscher Junge, ein paar Jahre älter als wir, ging durch unseren Waggon. Wir sahen ihm beide hinterher.
» Der war vielleicht süß«, sagte ich, sobald er verschwunden war.
Tony zögerte einen Augenblick, wirkte unschlüssig. Dann lächelte er.
» Ja, der war süß.« Als würde er sein innerstes Geheimnis enthüllen.
Was in mehrfacher Hinsicht auch so war.
Wir unterhielten uns weiter. Und vielleicht hatte es damit zu tun, dass wir eigentlich Fremde waren, oder vielleicht auch damit, dass wir das gleiche Buch gekauft und denselben Jungen süß gefunden hatten. Jedenfalls führte mit großer Leichtigkeit ein Wort zum anderen. Im Zug fahren bedeutet: immer geradeaus, und unser Gespräch bewegte sich genauso, wie auf Schienen, ohne sich um den Verkehr oder die richtige Route kümmern zu müssen. Er erzählte mir von seiner Schule, die so anders als meine Schule war, und von seinen Eltern, die so anders als meine Eltern waren. Er sprach das Wort schwul nicht aus und das brauchte er auch nicht. Es war zwischen uns sowieso klar. Dieser heimliche Ausflug war sein Geheimnis und etwas Außergewöhnliches für ihn. Seinen Eltern hatte er gesagt, er würde an einer Kirchenfreizeit teilnehmen. Und dann war er in den Zug gesprungen, um die Luft in der Stadt der Freiheit zu schnuppern.
Die Lichter der Big City verloren sich allmählich in der Nacht. Hügelige Weidelandschaft wogte in der Dunkelheit und schließlich tauchten unsere Kleinstädte am Horizont auf, die Einfamilienhäuser mit ihren Zäunen und Swimmingpools. Wir unterhielten uns, bis wir zu Hause angekommen waren, nur einen Ort voneinander entfernt.
Ich fragte ihn nach seiner Telefonnummer, aber er gab mir stattdessen seine E-Mail-Adresse. Das war für ihn sicherer. Ich sagte ihm, er könnte mich jederzeit anrufen, und wir fingen bereits an, Pläne zu schmieden. Unter anderen Umständen wäre es vielleicht der Anfang einer Liebesgeschichte gewesen. Aber ich glaube, wir spürten beide schon damals, dass wir etwas viel Selteneres und vielleicht sogar noch Wichtigeres gefunden hatten. Ich würde sein Freund sein und ihm neue Möglichkeiten aufzeigen. Und er würde im Gegenzug für mich jemand werden, dem ich mehr vertrauen konnte als mir selbst.
» Diltaunt aprin zesperado?«, fragt mich Tony jetzt, als er merkt, wie gedankenverloren ich bin.
» Gastemicama«, antworte ich.
Es geht mir gut.
Aber mich auf Tonys Hausaufgabe zu konzentrieren, fällt mir heute schwer. Mir geht zu viel durch den Kopf. Irgendwie schaffe ich es, drei Seiten vollzuschreiben, bevor Jay zu uns runterkommt und Tony anbietet, ihn nach Hause zu fahren. Von allen meinen Freunden mag mein Bruder Tony am liebsten. Vermutlich weil beide sich in ihrem Schweigen ergänzen. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie auf der Fahrt zu Tonys Eltern nebeneinander im Auto sitzen und kein einziges Wort sprechen. Jay respektiert Tony und dafür hat Jay allen meinen Respekt.
Ich weiß, dass Tony mir keine guten Ratschläge geben wird, wie ich mich im Fall von Noah oder Joni oder Kyle verhalten soll. Nicht dass er sich nicht seine Gedanken dazu macht (ich bin mir sicher, er macht sich welche). Er ist nur der Auffassung, dass jeder selbst entscheiden
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