Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
was dazu sagen«, sage ich.
» Ich kann dazu nicht viel sagen«, antwortet er, wieder mit einem leichten Achselzucken, diesmal um sich zu entschuldigen.
Wir sind bei mir und machen für uns gegenseitig die Hausaufgaben, was wir so oft wie möglich hinzukriegen versuchen. Das ist wie beim Aufräumen, da fällt es einem auch leichter, das Zimmer eines anderen aufzuräumen als sein eigenes. Wenn wir jeweils die Hausaufgaben des anderen machen, geht alles viel schneller über die Bühne. Ziemlich am Anfang unserer Freundschaft haben Tony und ich entdeckt, dass wir eine ganz ähnliche Handschrift haben. Der Rest ergab sich dann von selbst. Wir gehen selbstverständlich auf unterschiedliche Schulen und haben auch unterschiedliche Kurse belegt. Darin besteht ja die Herausforderung. Und darum geht es: um die Herausforderung.
» Über welches Buch soll der Aufsatz denn sein?«, frage ich ganz nebenbei.
» ›Von Mäusen und Menschen ‹ .«
» Du meinst ›Bitte, bitte, George, lass mich die Kaninchen streicheln ‹ von John Steinbeck?«
» Jep.«
» Cool, das hab ich sogar gelesen.«
Ich fange an, gedankenschwere, wichtige Sätze hinzukritzeln, während Tony hastig ein Französisch-Englisch-Wörterbuch durchblättert, um meine Französisch-Hausaufgabe anzufangen. Er selbst hat Spanisch gewählt.
» Das mit Joni scheint dich nicht sehr zu überraschen«, sage ich.
» Hab so was schon kommen sehen«, antwortet er, ohne vom Wörterbuch hochzublicken.
» Wirklich? Du hast dir schon ausgemalt, wie Ted und ich die beiden beim Knutschen überraschen?«
» Na ja, das nicht gerade.«
» Aber Chuck schon?«
» Na ja, das auch nicht gerade. Aber du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Joni hat nun mal gern einen Freund. Und wenn es nicht Ted ist, dann ist es eben ein anderer. Wenn dieser Chuck sie wirklich mag, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie ihn bald auch mag.«
» Und findest du das in Ordnung?«
Diesmal schaut er mir in die Augen. » Wer bin ich denn, um das in Ordnung oder nicht in Ordnung zu finden? Wenn sie glücklich ist, dann ist doch alles bestens.«
In seiner Stimme klingt eine freudlose Härte mit, und es braucht keine großen Verrenkungen, um zu erkennen, woher das rührt. Tony hat noch nie einen richtigen Freund gehabt. Er hat noch nie erfahren, wie das ist– sich lieben. Ich weiß eigentlich nicht, warum. Er ist hübsch, lustig, klug, ein kleines bisschen melancholisch, alles attraktive Eigenschaften. Aber er hat noch nicht gefunden, wonach er sucht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er wirklich weiß, was er sucht. Die meiste Zeit wirkt er wie eingefroren. Er verliebt sich vielleicht mal heimlich oder groovt tatsächlich auf der Tanzfläche mit einem Jungen, der das Potenzial zu einem richtigen Freund hätte… und dann, bevor es richtig angefangen hat, ist es auch schon wieder vorbei. » Hat wohl nicht sein sollen«, erklärt er uns, und das war’s.
Das ist einer der Gründe, warum ich mich nicht zu lange bei der Geschichte mit Noah festreden möchte. Obwohl ich sicher bin, dass Tony sich für mich freut, glaube ich nicht, dass das mit mir geteilte Glück für ihn selbst ein ungeteiltes Glück ist. Ich muss einen anderen Weg wählen, um seine Stimmung etwas zu heben. Ich nehme Zuflucht zu einem kleinen Palaver in einer nicht existenten Sprache.
» Hellipso fatzu wiff?«, frage ich.
» Tinsin rubbelmonk plitschticker«, antwortet er.
Unser Rekord liegt bei sechs Stunden, ein ausgiebiger Trip ins Einkaufszentrum eingeschlossen. Ich weiß nicht mehr, wie wir draufgekommen sind– aber eines Tages haben wir uns über irgendwas unterhalten, und plötzlich hatte ich keine Lust mehr, immer nur Englisch zu reden. Deshalb habe ich angefangen, Vokale und Konsonanten wild durcheinanderzuwürfeln. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hat Tony mir im gleichen Kauderwelsch geantwortet. Das Seltsame dabei ist, dass wir uns trotzdem immer verstehen. Der Tonfall und die Gesten drücken alles aus.
Tony und ich sind uns vor zwei Jahren das erste Mal begegnet. In The Strand, das ist eine der besten Buchhandlungen der Welt. Wir haben beide nach einem antiquarischen Exemplar von » Die verlorene Sprache der Kräne« gesucht, dem Coming-out-Klassiker aus den Achtzigern. Das Regalbrett war in zweieinhalb Metern Höhe, deshalb musste man auf eine Leiter steigen. Er kletterte zuerst hoch, und als er mit einem Exemplar runterkam, fragte ich ihn, ob dort oben noch eins stehen würde. Er schaute mich
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