Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
mitgedeckt werden, wir haben uns die ganze Zeit miteinander unterhalten, das volle Programm. Dann bin ich irgendwann darauf gekommen, dass sie überhaupt nicht meine Fantasiefreundin war. Ich war nur eine Einbildung und sie war wirklich. Ich fand das völlig einleuchtend. Meine Eltern waren da anderer Meinung, aber insgeheim bin ich immer noch überzeugt, dass ich recht habe.«
» Wie hieß sie?«, frage ich.
» Sarah. Und bei dir?«
» Thom. Mit einem h.«
» Vielleicht sind sie ja jetzt ein Paar.«
» Nein, glaub ich nicht. Ich habe Thom in Florida gelassen. Er hasste reisen.«
Wir nehmen uns beide gegenseitig nicht zu ernst, was ein ernsthafter Pluspunkt ist. Die Farbe an seinen Händen ist nicht richtig lila und nicht richtig blau. An einem seiner Finger sitzt ein leuchtend roter Fleck.
Die Sekretärin des Direktors hat das Mikrofon wieder übernommen. Die Homecoming-Parade ist fast vorbei.
» Ich bin froh, dass du mich gefunden hast«, sagt Noah.
» Ich auch. Ich bin auch froh, dass ich dich gefunden habe.« Ich schwebe ein paar Zentimeter über dem Boden, weil alles so leicht ist. Er ist froh, dass ich ihn gefunden habe. Ich bin froh, dass ich ihn gefunden habe. Wir sind beide glücklich. Wir haben keine Angst, uns das zu sagen. Ich bin so sehr an versteckte Hinweise und doppelte Botschaften gewöhnt, daran, Dinge zu sagen, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht etwas bedeuten können. An Spiele und Wettkämpfe, Rollen und Rituale, an Bekenntnisse, möglichst in zwölf Sprachen gleichzeitig verkündet, damit die wahre Aussage bloß nicht so offensichtlich ist. An die direkt ausgesprochene, blanke und ehrliche Wahrheit bin ich nicht gewöhnt.
Das wirft mich ziemlich um.
Ich glaube, Noah merkt das. Er schaut mich mit einem Grinsen an. Die anderen in unserer Reihe sind alle aufgestanden und drängeln. Sie warten darauf, dass wir auch aufstehen und gehen, damit sie raus und mit ihrem Tag weitermachen können. Ich möchte die Zeit am liebsten anhalten.
Die Zeit lässt sich nicht anhalten.
»263 «, sagt Noah.
» ?!???«, antworte ich.
» Die Nummer meines Schließfachs«, erklärt er. » Wir sehen uns dann. Nach der Schule.«
Jetzt will ich die Zeit nicht mehr anhalten. Ich möchte sie am liebsten eine Stunde vorstellen. Bis es so weit ist. Dann.
Als wir die Turnhalle verlassen, bemerke ich, wie Kyle mir einen finsteren Blick zuwirft. Das lässt mich jetzt kalt. Draußen warten bestimmt Joni und Ted auf einen vollständigen Bericht.
Dabei reicht ein einziges Wort:
Freude.
Rushhour
(mit Verwicklungen)
Eitelkeit kann so anstrengend sein. Ich will mir die Haare schneiden lassen, mich umziehen, den Pickel direkt an der Nasenspitze wegkriegen und meine Oberarmmuskulatur trainieren– alles in der nächsten Stunde. Aber ich kann nicht, (a) weil es unmöglich ist und (b) weil Noah, wenn ich auch nur eine dieser Veränderungen in Angriff nehme, sofort merken wird, dass ich was unternommen habe, und ich will nicht, dass er merkt, wie sehr ich mich in ihn verliebt habe.
Ich hoffe, Mr B. ist meine Rettung. Ich hoffe, sein Physikunterricht fasziniert mich heute so sehr, dass ich vollkommen vergesse, was mich nach seiner Stunde erwartet. Aber obwohl er mit einem Enthusiasmus, der jeder Schwerkraft trotzt, durch das Klassenzimmer hüpft, schaffe ich es einfach nicht, mich mitreißen zu lassen. Zweihundertzweiundsechzig ist mein neues Mantra geworden. Ich wälze die Zahl in meinem Kopf hin und her und hoffe, dass sie mir irgendetwas offenbart (außer dass sie eine Schließfachnummer ist). Ich wiederhole Wort für Wort das Gespräch mit Noah und versuche, es mir fest ins Gedächtnis einzuprägen, weil ich mich nicht traue, es in meinem Notizbuch festzuhalten.
Die Stunde verstreicht. Sobald die Glocke schrillt, springe ich von meinem Stuhl auf. Ich weiß nicht, wo das Schließfach 262 ist, aber ich werde es finden, todsicher.
Ich tauche in das Gewühl der Schulflure ein, schlängle mich an Sprüche klopfenden Grüppchen und den Weg versperrenden Schließfachtüren vorbei, ein einziger Hindernislauf. Schließlich ende ich bei Schließfach 435 – ich bin im total falschen Gang.
» Paul!«, ruft eine Stimme. Es gibt nicht so viele Pauls an meiner Schule, um einfach so tun zu können, als sei jemand anders gemeint. Widerwillig drehe ich mich um und stehe Auge in Auge mit Lyssa Ling, die mich gerade am Ärmel zupfen möchte.
Ich ahne bereits, was sie von mir will. Lyssa Ling spricht nie mit mir– außer
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