Noch ein Tag und eine Nacht
jahrelang den Trick mit der Nase mit uns gespielt. Er fasste uns an die Nase, und als er die Hand wegnahm, steckte sein Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger: »Da, ich habe deine Nase gestohlen.«
Wie sympathisch. Irgendwann ist er gestorben. So ist das Leben.
Der Satz, durch den ich zwanzig Minuten lang zum Genie wurde, lautete: »Wenn die Erde sich dreht, muss Amerika doch irgendwann da sein, wo wir jetzt sind. Wir müssen nur irgendwie so lange in der Luft hängen, wie der Zeitunterschied zwischen hier und Amerika beträgt. Da braucht man nicht mit dem Flugzeug zu fliegen, man muss nur mit einem Hubschrauber so lange in der Luft stehen, bis Amerika hierhergedreht ist, und dann steigen wir einfach da aus.«
Fürs Erste begannen wir zu hüpfen, um festzustellen, ob die Erde sich ein Stückchen gedreht hatte, wenn wir wieder landeten. Für uns stand fest, dass die Erde sich in die gleiche Richtung drehte wie unsere Einbahnstraße. Und tatsächlich waren wir überzeugt, dass wir ein Stückchen von dem Punkt entfernt landeten, an dem wir abgesprungen waren. Ich war nicht nur zum Genie aufgestiegen, ich war das Idol unserer Horde. Der King des Wendeplatzes.
Als Kind hatte ich viele Spielkameraden, aber mein allerbester Freund war Andrea. Wir waren wie Brüder. Ich übernachtete bei ihm, er übernachtete bei mir. Nachmittags kam er oft mit zu meiner Oma, wo wir etwas zu essen bekamen. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil wir uns jeden Tag mit vollem Mund gegenseitig fragten: »Willst du mal einen Unfall im Tunnel sehen?« Und dann machten wir den Mund auf und zeigten den Speisebrei. Inzwischen hat unsere Freundschaft merklich gelitten.
An dem Tag, als meine Theorien mich zum King des Wendeplatzes kürten, war mein Vater, der um diese Zeit eigentlich bei der Arbeit war, seltsamerweise zu Hause. Er sprach mit meiner Mutter, und danach kam er herunter, in mein Königreich, und rief mich zu sich. Er machte ein komisches Gesicht. Ich ging zu ihm, um ihm die tolle Nachricht zu verkünden: Sein Sohn war ein Genie, das sollte er gleich erfahren. Er umarmte mich fest, doch ich versuchte mich herauszuwinden, weil ich ihm ja etwas erzählen wollte. Schließlich sagte er mit glänzenden Augen, dass er jetzt zur Arbeit müsse, und ging fort. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Der Vater des kleinen Genies ging von zu Hause fort und ließ mich allein mit meiner Mutter zurück.
Der Obsthändler, Herr Sotuttoio, erklärte uns noch am selben Tag, dass es nicht möglich sei, schwebend darauf zu warten, bis Amerika eintrifft, wegen der Luftströmungen, der Atmosphäre, der Schwerkraft und einer Reihe anderer Dinge, an die ich mich nicht mehr genau erinnere. Jedenfalls war ich von da an kein Genie mehr – zu meinem allergrößten Bedauern. Ich war so geknickt, dass ich eines Tages, als ich schon ein wenig älter war und wieder einen genialen Einfall hatte, niemandem davon erzählte. Ich hatte mir überlegt, dass ein Mensch in einem Aufzug, der in die Tiefe stürzt, sich retten kann, indem er kurz vor dem Aufprall am Boden in die Luft springt. Weiß nicht, ob das funktionieren würde…
Von dem Tag an, da mein Vater fortging, war in meinem Leben nichts mehr wie vorher. Ich war kein Genie, und ich hatte keinen Vater mehr. Vor allem aber liebte nun meine Mutter nur noch mich. In der ersten Zeit sagte sie, mein Vater sei auf einer Geschäftsreise. Ich glaubte ihr, bis ich eines Tages mitbekam, wie sie seine Sachen in schwarze Müllsäcke stopfte. Da wusste ich, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Ich versuchte sie davon abzubringen, ich weinte und schrie, sie solle damit aufhören, aber sie sagte mir unter Tränen, er würde nicht mehr zurückkommen, und gab mir eine Ohrfeige. Heimlich stibitzte ich mir einen von seinen Pullovern und versteckte ihn in meinem Zimmer. Meine Mutter bemerkte es nicht, bis sie mich eines Nachmittags dabei erwischte, wie ich – wie so oft – heimlich im Schrank saß und daran roch. Meine Mutter entriss mir den Pullover, und ich habe ihn nie wieder gesehen.
Ich habe nur wenige Erinnerungen an meinen Vater. Alle Fotos, auf denen er auch drauf war, hatten ein Loch an Stelle seines Gesichts. Meine Mutter hatte es überall herausgeschnitten. Kann man sich etwas Traurigeres vorstellen? Ein Foto mit mir, meiner Mutter und daneben ein Körper mit einem Loch oberhalb des Halses? Viel Zeit hat mein Vater aber auch vorher, als er noch bei uns war, nicht mit mir verbracht. Es war immer meine
Weitere Kostenlose Bücher