Noch ein Tag und eine Nacht
gewesen war. Ich wollte er sein. Schließlich wurde ich zur Antwort auf die Situation. Ich versuchte meine Mutter nie zu enttäuschen, versuchte ein braver Junge zu sein, ein braver Sohn, und tat immer, was ich tun sollte. Ich wollte die Erwartungen nicht enttäuschen, ich wollte niemanden enttäuschen, weder meine Verwandten noch meine Lehrerin, noch die Welt, noch Gott.
Ich wurde viel zu schnell erwachsen. Ich musste der sein, der gebraucht wurde, und nicht der, der ich hätte werden sollen.
Ich habe ein extremes Verantwortungsgefühl entwickelt, habe immer gewusst, dass ich nicht viel verlangen durfte, um nicht zur Last zu fallen, und dass ich lernen musste klarzukommen. Selbst wenn meine Oma mich hochhob, damit ich den Brief oder die Postkarte in den Briefkasten einwerfen konnte, fühlte ich mich überfordert, es war eine Prüfung, die ich bestehen musste. Welches war nun der richtige Schlitz: STADTPOST oder ANDERE ORTE ? ANDERE ORTE mochte ich lieber, es brachte mich zum Träumen, ich stellte mir faszinierende ferne Welten vor. »Wenn ich groß bin, fahre ich auch nach andere Orte«, nahm ich mir vor.
Und während ich alles vorschriftsmäßig erledigte und keinen enttäuschte, hörte meine Mutter auf, nachts zu weinen und mich zu ersticken. Etwa ein Jahr nachdem mein Vater fortgegangen war, wachte ich eines Nachts, als ich bei ihr im Bett schlief, davon auf, dass sie telefonierte. Ich verstand nicht, was sie sagte, ich weiß nur, dass sie mich, nachdem sie aufgelegt hatte, hochhob, in mein Zimmer trug und die Tür anlehnte. Ich tat so, als wäre ich wieder eingeschlafen. Nach einer Weile hörte ich sie mit jemandem reden. Es war ein Mann. Ich stand auf und versuchte herauszufinden, wer es war. Als sie ins Schlafzimmer gingen, sah ich ihn. Ein Mann mit Schnurrbart. In dieser Nacht hatte ich Angst. Ich weiß nicht, warum. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte und einsam war. Sehr einsam. Meine Mutter war ein anderer Mensch geworden. Fern. Getrennt von mir.
Einmal um die Weihnachtszeit nahm meine Mutter mich mit in die Firma, in der sie arbeitete: Es gab etwas zu feiern, und dieser Mann war auch da. Es war ihr Chef. Heute leben sie zusammen.
Ich weiß nicht, ob es am Weggang meines Vaters liegt, jedenfalls habe ich den Menschen nie vertraut, den Frauen noch weniger als den Männern.
Ich bin jetzt vierunddreißig. Mein Vater starb, als ich fünfundzwanzig war. Mit meiner Mutter rede ich wenig. Meine Eltern: Der eine hat mich verlassen, die andere hat mich nie verstanden.
Als ich vom Tod meines Vaters erfuhr, ließ mich das nicht kalt. Ich war zwar weder wütend noch traurig, dafür packte mich tagelang eine seltsame Unruhe. Schon komisch: Er war schon längst über alle Berge, aber wenn einer für immer geht, ist das doch noch schwerer zu ertragen.
Bald nach seinem Tod zog ich bei meiner Mutter aus, und der Mann mit dem Schnurrbart zog ein.
Meine Mutter hatte einen Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel. Oft saß ich allein am Tisch und aß, weil sie, sobald sie mir den Teller hingestellt hatte, schon Pfannen und Herd saubermachte. Fußböden und Möbel waren immer spiegelblank. Alles blitzte. Wenn wir Besuch bekamen, sagte meine Mutter stets: »Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.« Aber wenn ich mich umsah, war alles perfekt. Von klein auf habe ich kaum Dreck gemacht.
Gegenüber meiner Mutter fühlte ich mich immer schuldig. Erst als ich erwachsen war, verstand ich, dass ihre Art, mich an sie zu binden, krankhaft war, dass dahinter die Angst stand, auch ich könnte sie verlassen.
Zwischen mir und dem Leben stand meine Mutter. Was immer ich tat, es erfolgte nie ohne Anweisung. Selbst wenn ich nur ein Glas Wasser trank: Spül hinterher das Glas aus. Zieh die Schuhe aus. Räum auf. Nicht aufs Bett steigen. Mach das Licht aus. Wenn ich badete: Pass auf, dass du den Boden nicht nass machst . Wobei der Satz, den sie aufgrund meiner periodischen Verstopfung am häufigsten zu mir sagte, lautete: Eine gute Verdauung ist das A und O .
Sätze, die mir selbst dann in den Ohren klangen, wenn meine Mutter nicht da war.
Sie kontrollierte sogar, wie oft ich aufs Klo ging. An dem Abend, als ich erfuhr, dass mein Vater gestorben war, ließ ich mir ein Bad ein. Ich ließ einfach weiterlaufen, bis das Wasser überschwappte, aber ich unternahm nichts dagegen. Ich sah zu, wie es überlief. Als ich fertig war, musste ich eine halbe Stunde aufwischen. Aber es hatte einen therapeutischen Effekt: Es war eine der ersten mutigen
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