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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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Mutter, die mich samstagnachmittags zum Fußballspielen ins Jugendzentrum der Kirche fuhr. Nur einmal wollte mich unbedingt mein Vater hinbringen. Als ich das hörte, dachte ich sofort, heute mache ich das Spiel meines Lebens. Ich nahm mir vor, bis zur Erschöpfung zu spielen, er sollte sehen, was für ein Crack ich war. Kaum war ich auf dem Platz, rannte ich los wie ein Verrückter. Ich half in der Abwehr aus, spurtete die Seitenlinie hoch, nahm den Ball an, suchte den Doppelpass, drang in den gegnerischen Strafraum ein. Immer mit einem Auge nach meinem Papa im Publikum schielend.
    Endlich wurden meine Anstrengungen belohnt. Ich nahm den Ball in der Luft an und machte ihn rein. Kein besonders aufsehenerregendes Tor, aber egal, der Ball war drin. Meine Mitspieler kamen jubelnd angelaufen, doch ich befreite mich und versuchte unter den Zuschauern meinen Vater ausfindig zu machen. Aber der war nicht mehr da. Er war weggegangen. Endlich entdeckte ich ihn, halb verdeckt hinter einem parkenden Auto, wo er mit einer Frau diskutierte, die ich noch nie gesehen hatte. So wie sie miteinander stritten, hatte es den Anschein, als würden sie sich gut kennen. Obwohl meine Mannschaft an diesem Tag gewann, war ich traurig, als wir im Auto nach Hause fuhren. Mein Vater bemerkte es kaum. Er fragte mich nur: »Wieso machst du so ein Gesicht? Ihr habt doch gewonnen.«
    Ich gab keine Antwort. Die ganze Fahrt über wechselten wir kein Wort mehr.
    Es gibt auch schöne Erinnerungen, die Sonntagsausflüge zum Beispiel. Ich stand die ganze Fahrt über hinten im Auto zwischen den beiden Vordersitzen und plapperte in einem fort mit meiner Mutter rechts oder meinem Vater am Steuer. Wenn ich müde war oder mich langweilte, sagte ich die ganze Zeit, alle dreißig Sekunden, wie ein Automat: »Wie lange noch? Wann sind wir da? Wie lange noch? Wann sind wir da?«
    Nachdem mein Vater fortgegangen war, war die Sitzordnung im Auto immer die gleiche: meine Mutter links, rechts neben ihr der leere Beifahrersitz. Höchstens mit Einkaufstüten darauf.
    Manchmal erzählte mir mein Vater den reinsten Unsinn, und ich glaubte ihm. In meinem Zimmer zum Beispiel hing ein Poster mit einem Formel-1-Rennauto, und er sagte, der Fahrer unter dem Helm sei er, vor der Heirat habe er bei Ferrari gearbeitet. Ein andermal erzählte er, er sei mit Giuseppe Garibaldi befreundet. Woraufhin ich, als wir an der Reiterstatue auf dem Largo Cairoli vorbeikamen, sagte: »Hallo, ich bin Giacomo, der Sohn von Giovanni.«
    Als wir dann in der Schule Garibaldi durchnahmen, zeigte ich auf und sagte: »Frau Lehrerin, den kenne ich. Das ist ein Freund von meinem Vater.«
    Alle lachten mich aus, aber ich war überzeugt, sie wären nur neidisch. Ein anderes Mal hänselten mich die größeren Kinder, weil mein Vater mir erzählt hatte, wie man einen Vogel fängt, ohne auf ihn zu schießen: Man müsse ihm nur Salz auf den Schwanz streuen. Ich habe es mehrfach versucht.
    In der Schule war ich der Einzige, dessen Vater spurlos verschwunden war. Es gab die Kinder aus intakten Familien, Kinder von Getrenntlebenden oder Geschiedenen und mich. Für mich gab es keine Wochenenden mit Papa wie für die Kinder der Getrenntlebenden, keine doppelten Geschenke zum Geburtstag und an Weihnachten. Mein Vater war verschwunden und hatte anderswo eine neue Familie gegründet. Ich habe eine Halbschwester.
    In der ersten Zeit ließ meine Mutter mich neben ihr im Bett schlafen. Manchmal war ich froh, aber manchmal war es auch bedrückend. Zum Beispiel wenn sie nachts weinte und sich an mich klammerte. Je mehr sie weinte, desto mehr klammerte sie sich an mich. Noch heute erinnere ich mich an ihren Geruch, an die verschwitzte Haut. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ersticken. Ich bekam keine Luft mehr. Sie drückte mich fest an sich, gegen ihren Busen. An der Wange spürte ich ihr Kettchen mit dem Kreuz. Es pikste, aber ich sagte nichts. Oder wenn sie mich auf den Kopf küsste und ich spürte, wie ihre Tränen auf meine Haare tropften. Manchmal weinte sie nicht nur, sondern sagte schlimme Sachen über die Männer im Allgemeinen und über meinen Vater im Besonderen. Andauernd musste sie mich darauf hinweisen, dass mein Vater uns nicht liebte und uns verlassen hatte. Irgendwann war ich froh, wenn ich allein schlafen konnte, denn all das war mir unangenehm. Ich fühlte mich machtlos, unfähig, ihr zu helfen und diese Situation aufzulösen. Ich wollte meine Mutter wieder so sehen wie damals, als mein Vater noch da

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