Nochmal tanzen - Roman
Gleiche. Wenn sie einmal auszieht von zu Hause, wird sie in der Stadt wohnen und nie mehr pendeln. Schnaufend erreicht sie den Zug und lässt sich auf eine Viererbank plumpsen. Auf dem Bahnsteig pressen Menschen Taschen an den Körper und rennen.
Der Zug fährt an. Sie nimmt das Vokabelheft aus der Mappe. Mit der Hand über dem deutschen Teil formt sie mit Zunge und Lippen die französischen Begriffe. «Dot, Mouchard.» Sie überlegt. Sartre, Les jeux sont faits. Das eine heißt Mitgift, das andere Spitzel. Sie deckt auf. «Dot» ist die Mitgift. Kurz wie Eve. Die Mitgift von Eve, die von ihrem Mann vergiftet wird. Der Mouchard ist verantwortlich für den Mord an Pierre. Pierre steht danach auf, als wäre nichts gewesen. Erst als ihm die Beamtin mit Blick ins Sterberegister sagt: «Sie sind heute Morgen um 10.35 Uhr getötet worden», begreift er, warum seit einiger Zeit niemand reagiert, wenn er etwas sagt oder tut. Pierre ist unsichtbar geworden. Er sieht die Lebenden neben sich auf dem Trottoir, hört ihre Gespräche im Café, kann aber einen Taschendieb nicht vom Klauen abhalten. Fleur starrt auf die wippenden Füße eines Pendlers. Um Pierre tummeln sich Tote aus allen Epochen. Was, wenn die Straßen, Plätze und Züge voll sind? Wohin mit den Toten, wenn sich schon die Lebenden drängeln? Die Welt müsste größer werden mit den Jahren. Oder ziehen sich die Verstorbenen in Gegenden zurück, wo es mehr Platz gibt? Tote auf Bergen, in Wüsten, im Wald. Sie streifen umher, beobachten den Sonnenverlauf, Murmeltiere oder Löwenkinder, legen sich ins Moos oder in den Sand. Sie müssen nichts leisten, sich nicht vergleichen lassen und sich nicht vorwerfen, nichts gegen das Elend auf der Welt zu tun. Sie brauchen keine Noten, kein Geld. Sie frieren nicht, haben keine Eltern, die Sorgen machen, keine Angst. Ihnen kann nichts passieren. Dieses ewige Wippen. Fleur würde sich als Tote zuerst Paris ansehen, dann die rote Wüste. Sie würde fotografieren, Sprachen lernen, Filme anschauen, lesen. Sie hätte Freunde und einen Freund.
Sie reißt sich von den wippenden Füßen und ihren Gedanken los. «Purgatoire – Fegefeuer, Vorhölle.» Nackte, gequälte Leiber, die mit verzerrten Gesichtern Maria anflehen. Ihr Mathelehrer sollte dort schmoren. Sartre hat Recht: Die Hölle, das sind die anderen.
Sie blättert um. «Darf ich Sie freundlich bitten, die besten Grüße, die ich Ihnen entbiete, anzunehmen.» Geschäftsbrief höflich, im Buch oben rechts. «Veuillez» und dann? Diese Floskeln. Muss man in der Arbeitswelt wirklich so schreiben und reden? Die Sprache von Sartre, Malraux, Ionesco ist ihr näher. Ihre Fragen gehen sie etwas an. Was macht das Menschsein aus? Wofür lohnt es sich zu leben? Was ist wahr? Was Freiheit? Fleur versucht sich an die Übersetzung von «entbiete» zu erinnern.
«Gib mir die Tasche. Gib mir die Tasche, habe ich gesagt!»
Sie schaut auf. Jeans, Tunika mit Blumenmuster, das gefärbte Haar streng zum Hinterkopf gekämmt.
«Sei anständig Papi, sonst steigen wir aus.»
Ein groß gewachsener alter Mann im Anzug setzt sich mit «Äxgüsi die Dame, Sie erlauben» neben Fleur ans Fenster.
«Ich habe dir gesagt, du sollst anständig sein», zischt die Frau über Fleur hinweg zum Mann.
«Wir könnten wieder einmal das Schiff nehmen», sagt er mit Blick aus dem Fenster.
«Wir fahren nach Hause.»
«Aber ich möchte Schiff fahren.»
Die Frau schlägt die Beine übereinander, schaut durchs gegenüberliegende Fenster hinaus.
«Jetzt weiß ich, wo wir hinfahren. Noch zwei Stationen, dann sind wir zu Hause.»
Die Frau schaut noch immer weg.
«Du, ich habe eine Idee, wir könnten im ‹Grütli› in Batzikon einkehren», sagt der Mann.
Schnell dreht sie den Kopf und sagt scharf: «Wir sind schon eingekehrt.»
«Du, im ‹Bären› ist es auch nett.»
«Ich habe genug. Die nächste Station steigen wir aus.»
«Nein, ich bin still.»
Fleur sieht dem Mann an, dass ihn ein Kommentar juckt. Statt etwas zu sagen, legt er beide Handflächen an die Fensterscheibe. Die Wiese mit der ausgesteckten Überbauung zieht vorbei.
«Schaffe, schaffe, Häusle baue», sagt er leise. Auf der Wiese spielen fast immer Kinder, wenn Fleur von der Schule heimfährt. Sie lassen Drachen steigen, Heißluftballone aus Seidenpapier, ferngesteuerte Flugzeuge. Bald stehen hier Häuser.
«Man stirbt nur einmal», platzt es aus dem Mann heraus. Fleur verkneift sich das Lachen.
«Jetzt habe ich genug. Kannst du nicht
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