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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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nehmen?»
    «Ich habe genug Kollegen, die es mir erklären können. Ich bin nur zu dumm, zu begreifen.» Sie bückt sich, um den Kugelschreiber vom Boden aufzuheben.
    «Warum lässt du dir nicht helfen?» Mutter legt die Zeitung auf die Beine. «Fliegst du jetzt von der Schule, findest du keine Lehrstelle.»
    «Ich weiß.»
    Fleur will in ihr Zimmer verschwinden, als Mutter fragt: «Hast du Papa angerufen?»
    «Nein.»
    «Bitte. Er hat ein Besuchsrecht. Er macht mich dafür verantwortlich, wenn du es nicht einhältst.»
    «Auf mich hat niemand ein Recht», faucht Fleur. «Ich kann nichts dafür, dass ihr euch scheiden lassen habt. Du hast Papa in die Wüste geschickt, nicht ich.»
    «Du bist ungerecht. Er war schon in der Wüste. Ich habe nur die Verhältnisse geklärt. Ruf ihn an.»
    «Immer muss ich mich melden.»
    «Er hat viel um die Ohren.»
    «Ich auch. Wäre ich ihm wichtig, würde er mich anrufen.»
    «Du bist tagsüber schlecht erreichbar.»
    «Warum verteidigst du ihn?»
    «Weil er dein Vater ist.»
    «Na und.»
    «Fleur.»
    «Lass mich in Ruhe.» Fleur geht in ihr Zimmer, lässt sich aufs Bett fallen und presst die Hände auf die Ohren. Die Gedanken sind lauter als das Rauschen. Eben war sie noch weit weg von allem, und dann kommt Mutter. Tochter, Vater. Als wäre damit alles gesagt. Warum rufst du Vater nicht an, warum redest du nicht mit deiner Mutter. Sie kann Mutter nicht sagen, was sie fühlt. Das war nie anders. Babs erzählte zu Hause sogar, wenn sie verliebt war, Fleur behielt es für sich und hatte ein schlechtes Gewissen deswegen.
    Mutter erzählt allen alles. Der Freundin, der Nachbarin, dem Arbeitskollegen. Sie erzählt, was Fleur tat, was sie sagte, was sie aß und was nicht. In jüngster Zeit hört Fleur sie sagen: «Fleur belastet die Scheidung.» – «Fleur pubertiert.»
    Das Latein-Wörterbuch auf dem Schreibtisch erinnert sie an die fällige Übersetzung. Sie steht vom Bett auf und setzt sich ans Pult. Jupiter ist in Menschengestalt bei armen Alten zu Besuch und lässt sich bewirten. «Nüsse und Feigen, gemischt mit der runzligen Dattel, Pflaumen und duftende Äpfel, in offenen Körben». Nur eine Dattel? Sie schaut im Wörterbuch nach. Es stimmt. «Da sahen Philemon und Baucis, wie sich des anderen Leib mit grünenden Blättern umkleidet. Als über beide Gesichter die Wipfel der Bäume wuchsen, sprachen sie zueinander die Worte: ‹Gatte, leb wohl.›»
    Zwei Bäume, die für immer beieinanderstehen und die Äste nach einander ausstrecken. Ein schöner Tod, Jupiter sei Dank. Für einmal vollbringt der Schwerenöter nicht aus Eigennutz Wunder, sondern aus Bewunderung für die Liebe der beiden Alten.
    Mit Sarah flocht Fleur die Götter aus der römischen Mythologie in die Umgangssprache. «Beim Jupiter» benutzten sie als anerkennenden Ausruf, «Was würde Juno dazu sagen» als Tadel. Einmal stritten sie sich, weil Fleur behauptete, die Menschen machten sich die Götter zu ihrem Ebenbild und nicht umgekehrt.
    «Seibt.» Die Stimme klingt verklebt.
    «Grüezi Herr Seibt, Alice Maag am Apparat.»
    «Ich habe gehofft, dass Sie anrufen. Seit meine Hand zittert, schreibe ich nicht mehr gerne. Darf ich Sie Alice nennen?»
    «Gerne.» Alice weiß nicht weiter.
    Auch Alexander schweigt. «Diese technischen Geräte», sagt er.
    «Wie bitte?»
    «Das Telefon verdirbt uns das Schweigen.»
    Alice entgegnet nichts. Sie hat sich ein anderes Gespräch vorgestellt.
    «Säßen wir einander gegenüber, wäre uns das Schweigen nicht unangenehm. Aber das Telefon zwingt uns zum Reden.» Er holt Luft. «Die Geräte steuern uns. Wir gehorchen den Befehlen von Autos, fügen uns den Launen von Kaffeemaschinen, lassen uns von Drehtüren gängeln. Unsere Handgriffe passen sich Billettautomaten, Mobiltelefonen und Lampen an.»
    «Das habe ich mir noch nie überlegt.»
    «Musstest du noch nie einer Lampe winken, damit sie Licht spendet?»
    «Nein.»
    Nach einer Pause sagt er: «Ich würde dich gerne zu einem Kaffee einladen. Dann können wir uns in Ruhe nichts sagen.» Er lacht heiser. «Bist du einverstanden?»
    Alice antwortet nicht sofort. Ob er immer so viel redet? Sie hat keine Lust, bloß Zuhörerin zu sein.
    «Kaffeetrinken ist eine gute Idee.»
    «Du bist Tänzerin, nicht?»
    «Wie kommst du darauf?»
    «Die Radiomoderatorin hat so etwas gesagt.»
    «Ich war Tanzlehrerin. Und Sie, äh, du?»
    «Ich bin Architekt. Magst du den Tearoom Hofgarten in der Stadt? Ich würde gerne wieder einmal dort

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