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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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anständig sein? Es ist immer dasselbe mit dir. Die nächste Station steigen wir aus.»
    Der Mann schweigt, nur seine Augen mucken auf. Jedes Mal, wenn er sich seiner Tochter zuwendet, rafft diese mit der Drohung, nun auszusteigen, die Einkaufstüten zusammen.
    Zu Hause lässt Fleur die Tasche mit dem Schulzeug fallen, streift die Schuhe ab. «Hallo!» Keine Antwort. Es ist ihr recht. Auf dem Esstisch liegt ein Zettel für sie. «Bitte mit Papa abmachen.» Sie zerknüllt das Papier und wirft es in der Küche in den Abfall. Im Schrank sucht sie nach Süßem. Kokoskekse. Wie oft muss sie Mutter noch sagen, dass sie Kokos nicht mag. Sie öffnet die Ovomaltinebüchse und isst löffelweise von dem Pulver, dann macht sie sich einen Gewürztee. Auf der Teeschachtel ist ein Strichmännchen im Schneidersitz gezeichnet. Darunter steht: «Selbstvertrauen finden. Sprich zu Dir selbst: Ich bin gesund, ich bin glücklich, ich bin toll.» Sie schließt die Augen und wiederholt den Satz drei Mal.
    Auf dem Esstisch breitet sie die Schulbücher und Hefte aus. Zuerst Mathematik, dann hat sie das hinter sich. Sie liest ihre Notizen durch, verfolgt Punkt für Punkt die Gleichungen, die der Lehrer an der Wandtafel gelöst hat. Dann macht sie sich an die Aufgaben. Die ersten zwei Schritte sind ihr klar, danach stockt sie. Sie überlegt, kritzelt, überlegt. Wie sie das hasst. Diese Scheißmathematik. Sie liest die zweite Aufgabe durch, brütet. Auch hier bleibt sie stecken. Sie geht in die Küche, schneidet eine Scheibe Brot ab, bestreicht sie dick mit Butter, streut Ovomaltinepulver darauf und vermischt beides, bis der Aufstrich schwarz ist. Sie beißt einen großen Bissen ab. «So wirst du dick», hört sie Mutter sagen. Zurück am Esstisch versucht sie sich erneut an den Aufgaben. Sie kommt nicht weiter. Sie wirft den Kugelschreiber auf den Boden und schreit: «Ich hasse es!» Eilig zieht sie Turnschuhe an, hängt die Kamera um und verlässt das Haus. Mit gesenktem Blick geht sie durchs Dorf. Trotzdem schmettert ihr der Metzger «Grüezi Fräulein» entgegen. Dieses Kaff. Nur weil der Metzger sie aufwachsen sah, hat er nicht das Recht, sie vorzuführen. Wenn sie Geld verdient und ausziehen kann, wird sie in der Stadt wohnen, wo sie niemanden grüßen muss.
    Als sich die Häuser lichten und niemand mehr in Sichtweite ist, verlangsamt sie ihre Schritte, schaut sich um. Blütenstaub liegt im Licht, die Wiesen blenden. Zu kitschig zum Fotografieren. Sie verlässt den Weg und sucht die Erde zwischen den Bäumen nach einem Motiv ab. Als sie eine Coladose in den Wurzeln einer Buche sieht, kauert sie sich hin und überlegt, welche Perspektive sie wählen soll. Hinaufklettern geht nicht, zu hoch und zu dick ist der Stamm. Sie setzt sich, zoomt Dose und Wurzel heran. Soll sie die Dose etwas verschieben? «Worum geht es dir?», fragte Mutter beim Anblick der Fotos von Sarah im Hotel, «um Realität oder Inszenierung?» Die Unterscheidung scheint Fleur unwichtig. Eine Coladose ist so oder so Realität. Ihr fällt die Deutschstunde ein, in der Wehrli Goethes Perspektive im Werther am Beispiel der Grashalme erläuterte. Der Dichter beschreibe die Wiese, als läge er darin, dozierte sie. Das sei das Besondere am Buch. Fleur sah Werther vor sich in der Wiese liegen, spürte seine Sehnsucht, und Wehrli sprach von Gras. Fleur unterbrach sie. «Wie können Sie behaupten, dass Goethe alles konzipiert, alles unter Kontrolle hatte. Der hat aus dem Gefühl heraus geschrieben. Aus dem Gefühl, verstehen Sie.» Wehrli nestelte an der Manschette ihrer Bluse und sagte: «Sie können aufstrecken, wenn Sie etwas zu sagen haben.» Diese Kuh. Fleur macht ein paar Bilder im Liegen, eines auf dem Rücken mit Blick in die Baumkrone, eines mit Makro ins Gras. Die Halme sehen aus wie Spieße. Sie steht auf und geht zum Wehr.
    Endlich das Rauschen. Sie schaut ins Wasser. Auf dem Strudel balanciert noch immer ein Ball. Ein Wunder, dass er nicht verschluckt wird. Als würde ihn jemand an der Oberfläche halten. Sie muss lachen. Auf einer Votivtafel stünde: «Maria hält den Ball in der Luft.» Doch wo eine Maria ist, muss ein Unheil sein. Der Ball würde einem Kind gehören, das ins Wasser gefallen ist. Oder einem Hund. Fleur stellt sich vor, wie ein nasser Hund Maria auf den Schoß springt. Ihr Kleid würde schmutzig. Also bückt sie sich zu ihm hinunter und streichelt ihn.
    Fleur fotografiert den Strudel und versinkt im Rauschen. Pascal hat sie angeschaut. Gelächelt.

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