Nochmal tanzen - Roman
sich wünschte, ginge in Erfüllung. Die Produktion von Waffen würde verboten, Grosi wäre gesund. Fleur würde Fotografin, hätte eine Wohnung in der Stadt und ihre Mutter einen guten Job. Und Sarah wäre wieder normal.
Sie dreht sich auf die andere Körperseite. Das kann sie alles nicht fotografieren. Eine Welt ohne Waffen wäre zwar nicht vermint, nicht zerbombt, aber auf dem Foto wäre nicht Frieden, sondern unversehrte Landschaft abgebildet. Sarah sieht mit oder ohne Gott gleich aus. Ihr eigenes Äußeres veränderte sich mit Wohnsitz in der Stadt ebenso wenig. Sie müsste gewöhnliche Menschen in gewöhnlicher Umgebung fotografieren.
Sie legt einen Arm über die Bettdecke. Wahre Wunder sind unsichtbar. Also doch der Autounfall, der Sturz aus dem Fenster, die Rettung aus dem Wehr. Abgewendetes Unglück. Und Maria? Soll sie die Madonna aus dem Kloster in die Fotos setzen? Oder jemanden als Maria kleiden? Manu hat zu kurzes Haar, Lis ist blond, Alice ... Madonna mit weißem Haar und Falten im Gesicht. Der Gedanke erheitert sie. Wobei ... hat Minder nicht erzählt, Maria sei der Überlieferung zufolge über sechzig Jahre alt geworden?
«Bitte nicht», ruft Michael, «am Nachmittag ist schon eine Englischprüfung angesetzt.» Wehrli verschränkt die Arme vor der Brust. «So, so. Eine gute Gelegenheit, Ihre Belastbarkeit zu testen, Michael. Das Thema lautet ‹Ein Tag im Leben›. An die Arbeit.»
«Wie wärs mit ‹Ein Tag im Tod›?» Fleur schiebt den Werther beiseite. Die Deutschlehrerin sieht sie an, überlegt. «Sagen wir: ‹Ein Tag›.» Fleur legt den Kopf auf die aufgestützte Hand und starrt aufs leere Blatt Papier.
«Maria steht auf, duscht, cremt sich ein. Sie mag heute nicht in die Kirche gehen. Den ganzen Tag Klagen anhören. Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer, Armut, Gewalt, Enttäuschung, Schmerzen, Krankheit, Einsamkeit. Es ist nicht zum Aushalten. Gott sei Dank sind da auch Kinder, die um ein Playmobil-Piratenschiff bitten. Wie gerne sie das Schiff verschenken würde. An der Haustür klingeln, dem Kind das Geschenk in die Hand drücken, in die Stube gebeten werden und zuschauen, wie das Kind Kanone, Papagei, Affe, Fernrohr und Piraten aus der Packung schüttelt und spielt.
Maria sieht in den Spiegel, zupft das Haar zurecht. Neulich, als ihr eine Jugendliche anvertraute, sie werde vom Mathematiklehrer schikaniert, hätte sie sich am liebsten seine Adresse geben lassen, um vorbeizugehen und ihn am Schlafittchen zu packen. ‹Was bildest du dir ein, dass du Mathematik über alles stellst? Rechnen bis tausend und das Einmaleins reichen mir völlig. Immerhin habe ich es bis zur Heiligen gebracht›, würde sie ihm an den Kopf schmeißen. Der Lehrer verspräche ihr ein Bild, Gebete, was sie wolle. Sie würde sagen, Bilder habe sie genug, er solle dafür sorgen, dass die Jugendliche nicht wegen ihm von der Schule fliege.
Sie setzt sich auf den Badewannenrand, um sich die Füße zu massieren. Immer muss sie stehen. Immer milde auf die Scheitel der Leute gucken. Viele sind schlecht gekämmt. Das nächste Mal, wenn jemand vor ihr niederkniet und ‹Was soll ich tun?› fragt, sollte sie ‹Einen geraden Scheitel ziehen› sagen. Ave Maria, gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Immer das gleiche Gebet. Immer wird sie an den Tod ihres Sohnes erinnert. Gibt es keine anderen Worte für Hoffnung?
Sie greift nach der Strumpfhose, streift sie vorsichtig über die Füße. Andere beziehen in ihrem Alter eine Rente und können das tun, was sie schon immer tun wollten. Auto fahren zum Beispiel – und zwar schnell. Sie würde aufs Gas drücken und Gottes Herrlichkeit an sich vorbeiziehen lassen. Die Wiesen, die Hügel, die Seen, die Kühe.
Maria klemmt das Armband, mit dem sich ein Bauer zum Dank für die Genesung seines Pferdes mit ihr vermählt hatte, zwischen Oberschenkel und rechtes Handgelenk. Mit der linken Hand versucht sie, es zu schließen. Das Band rutscht ab. ‹Verflixt.› Sie wird überhäuft mit Gaben, aber es ist niemand da, der ihr helfen könnte, das Armband umzulegen, den Reißverschluss ihres Kleides zu schließen und den Mäusen ihrer Katzen nachzujagen. Während sie drinnen die entflohenen Mäuse mit Schaufel und Besen einzufangen versucht, lassen sich die Katzen draußen von den Nachbarinnen kosen. Sie möchte auch gestreichelt werden.»
12
Alice zündet zwei Teelichter an. Eines für Fleur,
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