Nochmal tanzen - Roman
eines für Susanne. Wenn Susanne nur wieder zu sich kommt. Elsa sagt, die Ärzte seien zuversichtlich. Die Teelichter flackern, als Alice sie ans Küchenfenster stellt.
Eine nach der anderengeht. Die Schulfreundin, der Trainer, Vater, Mutter, Fritz. Im Turnunterricht leert sich Stuhl um Stuhl, im Radio wird einer Schauspielerin, einem Korrespondenten, einem Skirennfahrer gedacht. Krebs, Herzinfarkt, Hirnschlag, Autounfall. Jedes Mal denkt sie, es hätte auch sie treffen können. Und dann: Ich will noch nicht. Ich bin noch nicht fertig.
Sie gewöhnt sich nicht ans Wegsterben ihrer Zeit. Nicht, dass sie um alle trauert. Sie sinnt den Ereignissen nach, die mit den Verstorbenen zu Vergangenheit werden. «Sie war die letzte Diva», «Er war der Erste hinter dem eisernen Vorhang», «Er war der Schnellste nach alter Zeitmessung», «Gemeinsam mit ihrem Mann führte sie das erste vegetarische Restaurant der Stadt.»
Sie geht ins Badezimmer und wischt mit einem Lappen über den Spiegel. Grauenhaft, jemanden zu verlieren, mit dem man Jahrzehnte zusammen gelebt hat. Stirbt Martin, verändern sich wenigstens ihre Lebensumstände nicht. Das Glas quietscht unter dem Lappen. Was denkst du da. Das führt zu nichts. Vor ihrer Wohnungstür scheppert es. Sie reibt das Waschbecken trocken. Wieder scheppert es. Sie öffnet die Tür, um nachzuschauen, was los ist. Eine Leiter und ein Eimer stehen auf dem Zwischenboden. Weiter oben singt eine Kinderstimme «Kleine, freche, schlaue Biene Maja». Ob das Kind den Eltern beim Putzen hilft? Vielleicht sind Schulferien. Seit sie nicht mehr unterrichtet, hat sie keine Ahnung, wann sie stattfinden. Ihre Zeit besteht aus Morgen, Mittag, Abend, heute, morgen, nächste Woche, Sommer, Winter, Ostern, Weihnachten, gestern, vorgestern. Und früher. Sie schließt die Tür und holt in der Küche einen Staublappen. Vater nahm sie in den Schulferien manchmal mit auf eine Baustelle. Er hatte einen gelben Helm auf und zeigte den Männern riesige Zeichnungen. Manchmal brüllte er sie durch das Rasseln eines Baggers an. Die Männer boten Alice in der Pause «Pane» und «Cioccolata» an. Auch «Ti amo» und bis zehn zählen lernte sie auf Italienisch. Bei jedem Besuch fragte sie nach neuen Wörtern und Sätzen und war betrübt, dass es keinen Trick gab, um sich die Sprache anzueignen. In der Geheimsprache, in der sie sich mit ihrer Freundin unterhielt, genügte es, nach den Vokalen ein b plus den Vokal einzuschieben und schon konnten sie reden, ohne von den anderen verstanden zu werden. Labass ubuns seibeilhübüpfeben. Der Höhepunkt eines Baustellenbesuchs war, wenn sie mit dem Baggerführer in die Kabine steigen und den Steuerknüppel mitdrücken durfte. Oder war es die Kupplung? Der Knüppel war so schwer, dass sie ihn alleine nicht bewegen konnte.
Sie schüttelt den Staublappen aus und stellt den Computer an. Eine Nachricht von Martin ist eingetroffen. Sie setzt sich, liest.
Liebe Alice
Wenn ich es richtig verstanden habe, hast Du ein Rendezvous vor Dir. Weißt Du schon, was Du anziehst? Keine Bange, Du siehst in allem gut aus.
Ich bin energiegeladen wie ein Jungspund. Na ja, fast. Ich habe die königliche Tanzschule besucht. Die Leute sprechen so respektvoll von dieser Schule, dass ich mich bisher nicht hintraute. Es kam mir vermessen vor, anzurufen und zu sagen, «Hallo, ich bin Martin aus der Schweiz, ich möchte bei einer Probe zusehen.» Nun hat Pong eine Privatführung organisiert für mich. Ich glaube, er hat denen gesagt, ich sei ein berühmter Tänzer.
Im Proberaum herrscht die gleiche Atmosphäre wie früher bei uns. Die Tänzer sprechen kaum miteinander und wiederholen die Bewegungen so oft, dass einem langweilig wird beim Zusehen. Korrigiert der Lehrer jemanden, deutet der zum Dank einen Knicks an oder bittet mit einer Handbewegung um Verzeihung. Gelacht wird nur, wenn der Lehrer damit anfängt. Pong hat mir erklärt, dass Lehrerinnen und Lehrer Hochachtung genießen. Deshalb verwenden die Schüler im Gespräch mit dem Lehrer anstelle von «ich» das Wort «nuh», was «Maus» bedeutet. Also: «Maus hat eine Frage.»
Mir zuliebe probten die Tänzer zum Schluss eine ganze Szene ohne Unterbrechung. Sie tanzten mit Armen, Fingern, Schultern, Nacken und Kopf, während die Beinbewegungen kaum variierten und ziemlich statisch wirkten. Ein horizontaler Tanz – bis auf den Affenkönig. Du hättest sehen sollen, wie der herumsprang! Als wäre er ein Schimpanse. Und der Tänzer, der die
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