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Nochmal tanzen - Roman

Nochmal tanzen - Roman

Titel: Nochmal tanzen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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ist, öffnet die Augen. «Hast du mit mir gesprochen?»
    «Nein, mit meinem Vater.»
    «Was ist denn los?»
    «Er behauptet, wegen der Arbeit keine Zeit für mich zu haben, dabei hat er heimlich eine Freundin.»
    «Und jetzt?»
    «Will er mit mir essen gehen. Er kann mich mal.»
    «Warum triffst du ihn nicht und sagst ihm, er soll dich nicht anlügen?»
    Fleur verzieht das Gesicht. Warum soll sie sich erklären? Vater teilt ihr auch nicht mit, was ihn beschäftigt, außer er sorgt sich um sie. Schafft sie die Schule, kifft sie, hat sie keinen Freund, warum ist sie so vernünftig. Gell, du hältst dich von dieser Sekte fern, gell, du sagst, wenn du Hilfe brauchst. Ich bin immer für dich da. Dass sie nicht lacht. Sie presst die Stirn ans Fenster, um zu sehen, wo sie sind. Das gelb gestrichene Restaurant. Noch zehn Minuten.
    Was, wenn sie Vater doch trifft? Er wird sich herausreden. «Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.» Oder: «Es ist ganz frisch, ich wollte es dir nicht am Telefon sagen.» Und sie wird nach Worten ringen und Tränen unterdrücken. Sie will in Gegenwart ihrer Eltern nicht weinen. Weint sie, ist sie das Kind, das getröstet, aber nicht ernst genommen wird. Erwachsene beherrschen sich. Verlieren sie die Beherrschung, weinen sie nicht, sondern trauern oder verzweifeln. Sind sie neidisch, sticheln sie, freuen sie sich, machen sie ein Geschenk. Wütende Erwachsene fluchen oder schimpfen mit den Kindern.
    Sie merkt, wenn sich ihre Eltern beherrschen. Sagte Omi früher an einem Richtfest in einem bestimmten Ton «mein Sohn», sah Mutter weg und Vater verzog sich zu den Bauarbeitern. Kam einer seiner Auftraggeber zu Besuch, sagte Mutter zu Vater «Schatz» und lächelte, wie sie sonst nicht lächelte. Der Vater redete über Wein, bot Zigarren an und rauchte mit, obwohl er Rauch in der Wohnung nicht ausstehen konnte. Sie wusste dann, «dass es wichtig ist». Auch mit ihr waren die Eltern anders als sonst. Fing sie etwas zu erzählen an, beendete Mutter die Geschichte für sie. Vater dankte ihr überschwänglich fürs Helfen. Und beide achteten darauf, dass sie nicht das letzte Biskuit aus der Schale nahm. Kaum waren die Gäste weg, frotzelten die Eltern über den Kleidergeschmack, das großkotzige Getue oder die Biederkeit der Leute. Und Mutter knurrte, sie hasse diese Rolle, das nächste Mal soll Vater mit seinen Kunden in ein Restaurant gehen. «Ihr seid verlogen», warf ihnen Fleur vor. «Manchmal geht es nicht anders», sagte Vater, «ein Gebot der Höflichkeit.»
    Fleur tippt «Warum hast du mir nichts von deiner neuen Freundin gesagt?» ins Mobiltelefon und schaltet es nach Versenden der Nachricht aus. An Alice gewandt fragt sie: «Denkst du, Alexander macht mit bei den Fotos?» Alice nickt. Fleur sieht etwas aufblitzen in ihren Augen.
    «Weißt du, was Alexander heute Nachmittag getan hat? Er hat mir übers Radio gesagt, dass er sich aufs nächste Treffen mit mir freut.»
    «Vor allen Hörern?»
    «Ja.» Alice lächelt.
    Der Zug pfeift. Fleur schaut hinaus. Die Welt vor dem Zugfenster ist mit der Dämmerung zur Fläche geworden. Mittendrin sitzt, beleuchtet, Alice.
    Fleur löscht das Licht in ihrem Zimmer. Über dem Dach gegenüber kippt der Mond beinahe vornüber, so schwer ist sein Bauch. Mit der Kamera hält sie den Mond fest. Vielleicht kann sie ihn für die Votivbilder brauchen. Maria auf dem Mond statt auf einer Wolke. Er schaukelt auf dem Bauch, bis das Jesuskind auf Marias Arm quietscht. «Nicht so laut, Kleiner, du weckst alle.» Fleur lächelt und räumt die Kamera weg. Erst muss sie sich die Szenen auf Erden ausdenken.
    Sie streift ein übergroßes T-Shirt über und schlüpft ins Bett. Jemand wird aus dem Wehr gerettet, jemand überlebt einen Sturz aus dem Fenster, jemand wird nach einem Autounfall geheilt. Eigentlich keine Wunder, sondern Errungenschaften der Medizin. Na ja, erwacht jemand nach Tagen aus dem Koma, kommt einem das wie ein Wunder vor. Ein kleines Wunder. Ein richtiges Wunder wäre, wenn es Krankheit gar nicht gäbe. Wenn die Menschen aufhörten, sich zu streiten und Krieg zu führen. Wenn niemand hungern müsste und sich alle nach ihren Fähigkeiten entfalten könnten. Aber das schafft weder Maria noch Gott, der Allmächtige. Sarah wüsste sicher auch dafür eine rechtfertigende Bibelstelle.
    Fleur streckt die Füße unter der Decke hervor. Gäbe es doch richtige Wunder. Sie würde Mathematik begreifen. Nein, sie müsste nicht mehr in den Matheunterricht. Alles, was sie

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