Nochmal tanzen - Roman
kümmerte sich um die Kinder und das Haus. Sie ist vor drei Monaten gestorben. Seine Geliebte, eine Möbeldesignerin, hatte er über mich kennengelernt. Sie verließ ihn, weil sie keine Nebenbuhlerin sein wollte.» Alexander faltete die Hände und rieb die Daumen aneinander.
«Schrecklich, so zurückzublicken», sagte sie.
«Er war früher kein Zweifler.»
Alice schaute zu, wie Alexander mit einem Daumen über den anderen strich, sagte: «Solange wir nicht an den Tod denken, gehen wir davon aus, dass alles vorläufig ist. Dass immer Neues kommt.» Alexander fiel ihr ins Wort. «Die Endgültigkeit ist ein Schock. Unvorstellbar, dass eines Tages ohne Vorwarnung das Licht gelöscht wird. Das war es, fertig, Schluss.» Er schaute grimmig auf seine Daumen.
«Mit Vorwarnung ist es nicht besser. Dann bist du todkrank und zählst die Stunden.»
«Man sollte nicht gehen müssen, bevor man nicht alles Wichtige erlebt hat.»
Sie fragte, was das in seinem Fall sei. Er dachte nach. Das meiste habe er erlebt. Erfüllung im Beruf, Freundschaft, Feindschaft, fremd sein, heimisch sein, Anerkennung, ein Haus, Sex, Geld.
«Was willst du mehr.»
«Die Seelenverbindung zu einer Frau.» Alexander sah ihr einen Moment lang in die Augen, dann wieder auf seine Daumen.
«Hast du nie geliebt?»
«Doch. Mit einer Frau, die ich von Herzen liebte, lebte ich sogar mehrere Jahre zusammen. Eines Tages lieferte sie sich in eine psychiatrische Klinik ein.» Leise fügte er hinzu: «Ich hatte nicht gemerkt, dass es ihr so schlecht ging.»
«Hatte sie nichts gesagt?»
«Sie hatte öfter Phasen, in denen sie sich zurückzog. Ich ahnte nichts. Ich arbeitete viel.»
Alice fiel keine Entgegnung ein. Auch Alexander schwieg. Nach einer Weile sagte er: «Es gibt noch anderes, was ich erleben möchte: Etwas zu bekommen, ohne dafür gekämpft zu haben. Solidarität. Und das Vertrauen, dass nach dem Tod etwas Interessantes kommt.»
Alice lachte. «Etwas Interessantes?»
«Ich kann nur vom Leben her denken.»
«Ich habe kürzlich vom Tod geträumt. Erst war es still, dann ...» Alexander fiel ihr ins Wort. «Ich will nicht darüber spekulieren. Ich lebe. Punkt.»
Alice erstaunte die Heftigkeit, mit der er sie unterbrach. «Früher dachte ich, alt werden und sterben habe nichts mit mir zu tun», sagte sie.
Ruhiger als zuvor entgegnete Alexander: «In jungen Jahren ist das Alter etwas wie Schlitzaugen oder schwarze Haut. Etwas, das andere haben. Sagte mein Großvater ‹Als ich ein Kind war›, befremdete mich das als Bub.»
Alice hängt die Bluse in den Schrank. Ihrer Sterblichkeit wurde sie sich auf einen Schlag bewusst. Sie war 41 Jahre alt und saß mit Martin in einem Bergrestaurant neben einer Gruppe grau- und weißhaariger Frauen in bunt gemusterten Blusen. Die Gespräche drehten sich ums Essen und Kochen, um Familie, Hüftoperationen und die Bergspitzen im Abendrot. Obwohl die Frauen lebhaft waren und zufrieden schienen, beelendete Alice ihr Anblick. Sie begriff, dass auch sie eines Tages runzlig, grau, dick, langsam und gebrechlich wird und dass auch für sie das Essen zum Höhepunkt ihrer Tage werden könnte. «Dort, im Restaurant, habe ich mir geschworen, auf meine Gesundheit zu achten», sagte sie zu Alexander.
Er lachte. «Sterben wirst du trotzdem nicht gesund.»
«Am meisten Angst habe ich vor Demenz.»
«Ich auch. Sobald ich ein Anzeichen davon feststelle bei mir, bringe ich mich um.»
Das Gleiche hatte sie auch schon gesagt. Doch der Gedanke, Alexander könnte aus ihrem Leben verschwinden, tat ihr weh. «So schlimm steht es zum Glück noch nicht um uns. Ich bin zufrieden mit meinem Leben», sagte sie.
«Keine Krisen?»
«Doch, natürlich. Jedes Mal, wenn Martin und ich keine Medaille gewannen. Der frühe Tod meiner Freundin, finanzielle Probleme bis das Ballero rentierte, die Scheidung. Gelitten habe ich auch, als Martin auswanderte. Aber ich habe alles überstanden. Und du, bist du zufrieden?»
Alexander schaute sie an, als hätte sie eine ungehörige Frage gestellt. Er sprach von unrealisierten Plänen eines Opernhauses, von der Ausbildung zum Hubschrauberpiloten, für die es nun zu spät sei, und dass er noch Klavier spielen lernen möchte.
Sie dachte an die Reisen, die sie nicht unternahm, an die tanzende Stadt, die nicht verwirklichte Show auf dem Kreuzfahrtschiff. Trotzig sagte sie: «Lieber mit unrealisierten Ideen sterben, als schon vor dem Tod mit dem Leben abschließen.» Sie bemerkte, dass sie laut wurde, aber es
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