Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Serviette an. Morbus. Jonathan Morbus war der Graf von Caer Therin. Und Nevera …
Ihre Tante inhalierte tief den Zigarettenqualm, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Schätzchen, du bist aschfahl. Stimmt etwas nicht?«
»Morbus.« Ihre Stimme versagte, man hatte das Wort kaum gehört. »Morbus und die Dichter, Nevera …«
»Beunruhigt dich das, meine Liebe? Dass ich die Dichter befehle?« Nevera flüsterte das letzte Wort.
Apolonia ließ die Serviette fallen, schoss auf die Füße und stand wie versteinert da. Sie wäre weggerannt, hätte sie gewusst,
wohin. Doch es gab keinen Ort, an den sie hätte flüchten können. Es gab keinen Menschen, der ihr helfen würde.
»Wieso? Warum ausgerechnet Sie? Nachdem …« Ihr wurde speiübel. »Sie haben meine Mutter auf dem Gewissen, Ihre eigene Schwester!«
Nevera stieß ein leises Geräusch aus, halb Schnauben, halb Seufzen. »Sei nicht albern, Apolonia. Ich bin ihre Schwester, wie du schon gesagt hast, und ich bin deine Tante. Glaubst du ernsthaft, ich wäre eines Mordes fähig? Wenn ich nicht um deinen momentanen Zustand wüsste, könnte ich glatt gekränkt sein.«
Apolonia kniff die Augen zusammen. »Aber Sie gehören zu den Dichtern, Sie haben es selbst gesagt! Und die Dichter …«
»… wollen dich retten!«, sagte Nevera scharf und drückte ihre Zigarette aus. »Setz dich, Apolonia. Du weißt nicht, was du redest. Ich kann es dir natürlich nicht verdenken, schließlich hat dir niemand die Wahrheit gesagt. Aber nachdem du Jonathan bereits näher kennengelernt hast, solltest du ihm gegenüber nicht so voreingenommen sein.« Nevera drückte sich Zeigefinger und Daumen gegen die Nasenwurzel. »Das heißt - ich weiß ja nicht, wie er sich in seiner Verzweiflung verhalten hat. Womöglich hat dich die Wahrheit so sehr erschreckt, dass du irgendwie … ihn dafür verantwortlich gemacht hast! Jedenfalls hast du ihn ganz und gar falsch verstanden.«
Apolonia begriff überhaupt nichts mehr. Welche Wahrheit? Was sollte das bedeuten, »in seiner Verzweiflung«?
»Ich denke«, sagte sie schwer atmend, »es gibt nichts falsch zu verstehen, wenn man entführt, bedroht und fast umgebracht wird! Dieser - dieser Mann, von dem Sie sprechen, als wäre er ein Freund, wollte mich mit seinen Mottengaben manipulieren und die Erinnerungen an meine Mutter stehlen!« Sie konnte es nicht fassen. Nevera stritt einfach ab, dass die
Dichter Verbrecher waren! »Und abgesehen von dem, was die Dichter mir antun wollten - was ist mit Vampa und all ihren anderen Opfern?« Dabei zog sie Vampa neben sich, teils um Neveras Augenmerk auf ihn zu lenken, teils um sich an seinem Arm festhalten zu können, denn sie fühlte sich, als würden ihr gleich die Knie nachgeben.
Neveras Blick war eisig auf Vampa geheftet. Es schien, als lodere ein verborgener Hass in ihr auf, der allein ihm galt.
»Du musst noch so viel von uns erfahren«, sagte Nevera leise. »Wir Dichter sind Motten, ja, aber wir sind nicht die Einzigen - ist dir das noch nicht in den Sinn gekommen? Es gibt uns Dichter … und es gibt die Verbrecher, nach denen du suchst. Nach denen wir suchen. Du musst wissen, wir Dichter haben uns einer noblen Sache verschrieben. Wir wollen das volle Potenzial unserer Gaben ausschöpfen und damit der Menschheit dienen. Denn wir erkennen das Licht unter all den blinden Menschen, wir sind es, die die wahre Schönheit und die schöne Wahrheit sehen können. Wir sehen das Licht in jedem Menschen, Apolonia. Die Schönheit, die keiner Worte bedarf und in keine Sprache gefasst werden kann. Und wir wollen der Menschheit die Sicht auf ihre eigene Schönheit schenken, auf dass die Liebe sich nicht mehr auf das eigene Herz beschränken muss. Verstehst du das? Wir ermöglichen die einzig wahre Kommunikation, mit der man echte Gefühle und Empfindungen teilen kann. Nur so kann die Menschheit ihre Selbstsucht überwinden. Und lernen zu lieben.«
»Und diese Schönheit, von der Sie sprechen, die schenken Sie den Menschen auf ihre eigenen Kosten, ja? Oder wie wollen Sie sonst rechtfertigen, was Vampa zugestoßen ist? Kein Blutbuch der Welt kann den Wert eines Menschen aufwiegen!«
Nevera neigte interessiert den Kopf. »Jonathan wird sich gewiss freuen, mit dir darüber zu debattieren. Schriftsteller,
musst du wissen, lieben es, sich in Fragen über den Wert eines Menschenlebens, die Verwurzelung von Eigennutz in unserer Natur und solcherlei philosophischem Geschwätz zu ergehen.«
Als Apolonia keine Miene verzog,
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