Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Punkt hinter Apolonia. »Wir, Apolonia, du und ich und unseresgleichen - wir flattern durch den Lärm der schreienden Menschen, passen uns an, sind unentdeckt und unscheinbar, so wie Motten … Natürlich gibt es noch einen anderen Grund, wieso sich unser Name bei dem einfachen Volk eingebürgert hat. Schmetterlinge, im Griechischen Psyche genannt, symbolisieren seit jeher die Seele und die Verbindung zwischen dem Menschen und allem Göttlichen. Für die Leute sind wir genau das Gegenteil, Motten, die schwarzen Zwillinge des Schmetterlings, die Wesen der Nacht; unsere Gaben verkörpern die Verbindung zwischen Mensch und Teufel. Natürlich ist das völliger Schwachsinn … Willst du etwas essen, meine Liebe?« Sie schob ihr den Korb mit den Brötchen und Croissants zu.
Apolonia nahm sich ein Mohnbrötchen und strich mechanisch Himbeermarmelade darauf, dann machte sie einen viel zu großen Bissen und schluckte überhastet hinunter. Vampa nahm sich nichts - die Tatsache, dass er sie nicht nachahmte, überraschte Apolonia schon fast. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und erkannte, dass er gebannt Nevera anstarrte.
»Apolonia?«, fragte Nevera sanft. »Möchtest du mir jetzt vielleicht erzählen, was in den vergangenen Tagen geschehen ist? Ich weiß nur das, was die Polizei mir gesagt hat und was ich in den Zeitungen lesen konnte. Demnach gehe ich davon aus, dass Vampa … der Boxer aus Eck Jargo ist?« Sie runzelte zögernd die Stirn.
Apolonia legte das Brötchen auf ihren Teller und schluckte. »Wie Sie gesagt haben, wir sind eine Familie. Und ich kann auf Ihre Hilfe zählen, nicht wahr, Tante? Wo wir beide doch dasselbe wissen und können?«
Nevera nickte. »Du musst mir nichts verheimlichen, meine Liebe.«
Apolonia holte tief Luft. »Tante, ich werde verfolgt. Man will mich umbringen oder noch Schlimmeres, fürchte ich.«
Nevera beobachtete sie reglos. Der Rauch ihrer Zigarette stieg in wabernden Fäden an ihrem Gesicht empor.
Apolonia fuhr unbeirrt fort und versuchte, so sachlich und verständlich wie möglich zu erklären. »Die Leute, die mich verfolgen, nennen sich Dichter, und es sind… sie sind Motten. Sie sind Verbrecher. Sie sperren Menschen mithilfe ihrer Gaben in Bücher, um die schönsten, wahrsten Geschichten der Welt zu erschaffen. Sie machen vor nichts und niemandem halt, Tante. Vampa ist eines ihrer Opfer.« Apolonia war leiser geworden, doch ihr Blick erwiderte Neveras fest. »Er hat keine Vergangenheit und kann nicht sterben. Die Dichter haben ihm alles genommen, seine Erinnerungen und seine Gefühle. Sie haben es auch bei mir versucht. Ihr Meister, Jonathan Morbus, wollte mir die Erinnerungen an Magdalena nehmen. Ich weiß nicht, wieso, aber sie wollten, dass ich eine von ihnen werde, und hätten mich dabei fast umgebracht. Ich brauche Ihre Hilfe, Nevera - nicht nur um dieses entsetzliche Missverständnis mit dem toten Polizisten aufzuklären. Sie müssen mir helfen, die Dichter anzuzeigen. Weil Sie wissen,
dass es Motten gibt, und es bezeugen können. Ich schwebe in Lebensgefahr, solange Morbus auf freiem Fuß ist. Außerdem… Ich bin mir sicher, dass sie Magdalena ermordet haben. Die Dichter sind ihre Mörder.« Apolonia hatte die Fäuste im Schoß geballt. Nevera schwieg.
»Glauben Sie mir?« Apolonias Stimme zitterte. »Helfen Sie mir, Nevera? Es … es geht um mein Leben.« Sie schluckte, ihr Hals war schrecklich trocken. »Und es geht um meine Mutter. Ihre Schwester.«
Nevera zog an ihrer Zigarette und tippte die Asche in den Aschenbecher. »Wieso wollten diese Dichter, dass du dich ihnen anschließt?«
Apolonias Herz pochte schnell und schwer, sie spürte jeden Schlag dumpf in der Brust. »Ich…« Sie räusperte sich mühsam. »Sie sagten, meine Gaben seien unentbehrlich für sie.«
Nevera deutete auf Apolonias Tasse. »Nimm einen Schluck, meine Liebe, für deine Kehle.«
Apolonias Finger schlossen sich zitternd um den Griff, und sie führte die Tasse an den Mund, ohne sich fähig zu fühlen, einen Schluck zu nehmen.
»Du musst keine Angst haben«, sagte Nevera, mit einer Stimme, die nichts mehr von dem süßen Ton von früher hatte. »Ich werde gut auf dich aufpassen, und niemand wird dir Schaden zufügen, solange du in meiner Obhut bist. Schließlich bist du meine Nichte. Und ich bin die Schwester deiner Mutter … und schließlich sind deine Gaben unentbehrlich für uns.«
Apolonia würgte, als ihr der heiße Tee die Kehle hinabrann. Sie stellte die Tasse leise klirrend ab
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