Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
Gefahr sie geschwebt hatte. Das hieß - in der größten schwebte sie noch.
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Tante, darf ich Ihnen zuerst einige Fragen stellen?«
    Nevera drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus, zog eine neue aus einem Silberetui und steckte sie in ihren schwarzen Halter. »Aber gewiss, meine Liebe. Wir haben viel zu besprechen und dafür alle Zeit der Welt.«
    Apolonia wollte nach dem Brief greifen, als ihr einfiel, dass
sie ihren Mantel ja abgegeben hatte. Ärgerlich über sich selbst, zog sie die Hand zurück. »Erst einmal der Brief. Wie haben Sie das geschafft?« Ihre eigentliche Frage war, ob die Dichter sie dazu gezwungen hatten - doch Neveras Gelassenheit ließ die Furcht vor einer Falle mehr und mehr schwinden.
    Nevera zündete ihre Zigarette an. Der Rauch umschmiegte ihr hohlwangiges Gesicht. In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Diener von eben erschien mit Geschirr für Vampa. Er deckte den Tisch und faltete die Serviette mit so viel Sorgfalt zu einem stehenden Dreieck, dass Apolonia ihm am liebsten auf die Finger geschlagen hätte. Dann deutete er endlich eine Verneigung an und fragte: »Haben Sie noch einen Wunsch, Madame?«
    Nevera wies auf Apolonia. »Was möchtest du trinken, Apolonia?«
    Apolonia wollte bloß, dass der Diener verschwand und sie ihr eigentliches Gespräch weiterführen konnten. »Schwarzer Tee, drei Teelöffel Milch, den Honig gebe ich selbst dazu. Danke.« Sie bedeutete dem Diener, dass er genug in ihre Tasse geschenkt hatte.
    »Der junge Herr?«, fragte der Diener.
    Vampa nickte bloß.
    »Wünschen Sie dasselbe?«
    Vampa räusperte sich leise. »Ja. Tee.«
    Apolonia betrachtete ihre schmutzigen Fingernägel, während der Diener auch ihm Tee einschenkte. Dann schaute sie zu Nevera. Ihre Tante beobachtete Vampa mit einem unergründlichen Ausdruck. Kurz überfiel Apolonia Scham, als sie an Vampas unmöglichen Aufzug dachte, doch ein Gefühl verriet ihr, dass das nicht der Grund für Neveras starren Blick war.
    »Du kannst gehen«, sagte Nevera und winkte den Bediensteten fort. Als die Tür ins Schloss fiel, wiederholte Apolonia
ihre Frage: »Wie konnten Sie dem Marder den Brief geben?« Es so klar auszusprechen, bereitete ihr fast eine Gänsehaut. Natürlich gab es nur eine Antwort - und die kannte sie genauso gut wie ihre Tante.
    »Apolonia… süße Apolonia. Wir sind eine Familie, nicht wahr? Ich bin die kleine Schwester deiner Mutter … verstehst du?«
    Apolonia nickte erwartungsvoll. Ein Kloß stieg ihr in den Hals.
    »Natürlich war ich der schönen Magdalena schon immer unterlegen, was all unsere Begabungen betraf. Und doch - du siehst, ich habe es geschafft, dir meinen Brief zukommen zu lassen.«
    »Das heißt … Sie können das auch … wie ich? Mit den Tieren?«
    Ein merkwürdiges Leuchten glitt durch Neveras stahlblaue Augen. »Oh, ich maße mir nicht an, meine Fähigkeiten mit den deinen zu vergleichen. Du hast Magdalenas Talent geerbt. Auf mich hat es nur abgefärbt, so wie ein unbedeutendes Geschöpf im Licht des Mondes selbst überirdisch scheinen mag.«
    Apolonia schwieg, da die Wahrheit sie sprachlos machte. Nevera… ausgerechnet ihre Tante war die ganze Zeit eine Motte gewesen und sie hatte es nicht bemerkt. Endlich bekam sie heraus: »Sie wussten, dass ich es konnte? Seit wann?«
    Nevera zupfte einen imaginären Tabakkrümel von ihrer Unterlippe. »Ich ahnte es die ganze Zeit. Ein Talent, wie Magdalena es hatte, geht über eine Generation schließlich nicht verloren. Genau weiß ich es natürlich erst seit diesem Augenblick. So wie du von mir.«
    »Wieso haben Sie es für sich behalten?«, fragte Apolonia verwirrt.
    »Hast du denn die deinen nicht ebenfalls für dich behalten?
Das ist unser Los, Apolonia. Das weißt du.« Ihre Stimme war längst nicht mehr so honigsüß und hauchend wie sonst. »Hat dir schon einmal jemand gesagt, wieso man Menschen wie uns Motten nennt?«
    Apolonia zuckte kaum merklich zusammen, als Nevera das Wort aussprach. Es klang unwirklich, Motten aus Neveras Mund zu hören. Nie hatte jemand außer ihr in einem ernsthaften Gespräch Motten erwähnt. »Ich weiß es nicht.«
    »Natürlich nicht, wer sollte auch mit dir darüber sprechen? Du hast ja selbst bis jetzt nicht geglaubt, dass du eine Motte bist.« Sie wich Apolonias misstrauischem Blick aus und tat einen weiteren Zug. Anmutig legte sie einen Arm über die Sofalehne und schlug die Beine übereinander. Ihre Augen fixierten irgendeinen fernen

Weitere Kostenlose Bücher