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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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und griff nach der Serviette. Ohne Nevera ansehen zu können, presste sie sich den Stoff auf die bebenden Lippen.
    Nevera blies den Qualm zur Seite und beobachtete seinen
trägen Tanz in der Luft. »Du hattest recht, Apolonia, von Anfang an. Es gibt einen verbrecherischen Mottenbund. Ihr einziges Ziel ist es, dich zu finden. Und zu töten. So wie deine Mutter.«
    Apolonia schwindelte. Ihr Magen zog sich zusammen, sie rang nach Atem. Ihr Blick fiel auf die Serviette, um die sich ihre verkrampften Finger geschlossen hatten. Zwei blutrote Buchstaben waren eingestickt. Die Initialen des Hausherrn.
    J. M.

Das Zweite Buch

Gut undBöse

    D er Himmel hüllte sich in rosafarbene und goldgelbe Wolkenschleiern, die in sanften Wirbeln bis zum Horizont liefen. Vor ihm erstreckte sich ein endloses Feld von Wildblumen: Blutroter Klatschmohn und schulterhohe Veilchen, riesenhafte Orchideen und Wasserlilien wisperten in der warmen Brise. Tigwid hielt vor Staunen den Atem an. Er streckte die Hände aus und berührte die Blüten mit den Fingerspitzen. Eine Sonne, die von überall und nirgends strahlte, küsste sein Gesicht und tauchte ihn in herrlich süße Wärme.
    Tigwid …
    Erst als er ihre Stimme hörte, wurde ihm bewusst, wer er war - Tigwid, natürlich! War er je ein Bandit namens Jorel gewesen oder der Waisenjunge Gabriel, so schien es ein ganzes Leben hinter ihm zu liegen. Er war Tigwid, nur noch Tigwid. Er war, was auch immer sie ihn nannte.
    »Apolonia?«, flüsterte er in die tiefen bunten Wiesen. Das Gras rauschte lauter. Er war sich nicht sicher, ob er darin eine Stimme hörte, ihre Stimme, die seinen Namen hauchte, als atmete sie den Klang. Er drehte sich. Die Gräser schienen höher geworden zu sein, er sah kaum mehr den Horizont. Ein aufbrausender Wind heulte durch die Felder und bog die Mohnblumen.

    »Apolonia? Bist du da?« Er blinzelte. Das Licht war plötzlich verschwommen, die rauschenden Blumen zerliefen ineinander. Gleißende Streifen aus Farbe und Dunkelheit spülten an ihm vorbei.
    Tigwid!
    Die Stimme war ein dumpfes Fauchen, das den Boden vibrieren ließ. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin brüllte der Wind aus jeder Richtung, die Gräser blähten sich auf und grelle Farbtentakel sprossen in die Höhe. Aus der Erde kroch tiefes, sattes Tintenschwarz empor und verfinsterte das farbenfrohe Feld. Irgendetwas tanzte durch die Luft… Es sah aus wie Ascheflocken… Tigwid spürte, dass er sank. Er riss erschrocken den Mund auf, konnte aber nicht schreien. Die Finsternis fasste nach seinen Schultern und er spürte einen gleißenden Schmerz irgendwo am Oberkörper. Dann war alles dunkel.
    Er lag oder stand oder schwebte, genau konnte er es nicht sagen. Ein rasselndes Geräusch näherte sich ihm. Es schwoll an, wurde lauter, kam von überall - es war das Geräusch schlagender Flügel und zischender, schnarrender, quietschender Insekten. Die Dunkelheit rings um Tigwid war gar keine Dunkelheit. Es waren Tausende und Abertausende flatternder Motten. Und nun spürte Tigwid, dass er selbst eine von ihnen war.
    Seine schuppigen schwarzen Flügel schlugen schnell und heftig und bereiteten ihm brennende Schmerzen in der Schulter. Irgendwo hier war Apolonia. Doch wie konnte er sie finden? Es gab ja kein Licht!
    »Apolonia!« Er schrie und hörte sich selbst kaum. »Das Licht! Finde Licht! Du bist blind in dieser Schwärze!«
    Das Gezischel und Geflatter war ohrenbetäubend. Fremde Flügel streiften und schlugen ihn und das Grauen überkam ihn in einer Welle von Übelkeit.

    »Aufhören! Bitte…« Er wimmerte kläglich und gab das panische Flattern auf. Er stürzte und taumelte durch das Gedränge, fiel immer tiefer, wurde geschubst und niedergedrückt. Zuletzt landete er hart auf der schwarzen Erde. Sein zerbrechlicher Körper zitterte. Die Geräusche der Motten verschwammen… Nichts blieb mehr, Tigwid lag in stille Nacht gehüllt da wie in einem dichten Kokon. So schlief er Jahrhunderte… Wenn er erwachte, was würde er werden? Ein dunkler Nachtfalter? Ein Schmetterling?
    Aus weiter Ferne und doch ganz nah erreichten ihn fremde, vertraute Stimmen.
    »Hörst du, er spricht im Fieber.«
    »Habt ihr Erasmus Bescheid gesagt, dass er hier ist?«
    »Er ist schon auf dem Weg.«
    »Glaubst du, wir können das Mädchen finden, bevor es zu spät ist?«
    »Wenn der Junge wieder zu sich kommt, hoffentlich. Ganz ruhig, Mart.«
    »Was meinst du, wird er überleben?«
    »Ich glaube, ja.«
     
    Apolonia starrte die Initialen auf der

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