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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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nahm Nevera den Arm vom Sofarücken und faltete die Hände. »Ich weiß, was du meinst. Natürlich wäre es eine große Sünde, unschuldige Menschen aus reinem Forschungsgeist oder Liebe zur Kunst in Blutbücher zu sperren.«
    »Wollen Sie etwa abstreiten, dass Sie es tun? Morbus hat es längst zugegeben!«
    Nevera lächelte zögerlich, ihre Zähne schimmerten hell zwischen den roten Lippen. »Und mehr hat Jonathan wohl nicht gesagt über den Sinn der Blutbücher? - Natürlich. Das Wichtigste heben Schriftsteller sich immer für den Schluss auf, nicht wahr?«
    »Ach, es wird noch besser?«, erwiderte Apolonia mit einem Zynismus, der ausschließlich das Ergebnis ihrer Verzweiflung war - sozusagen ein letztes geistiges Trostgeschenk vor dem Ende.
    »Schluss damit«, sagte Nevera. »Verspotte uns meinetwegen, wenn du alles weißt - aber davor erwarte ich, dass du mich anhörst. Das habe ich als Retterin deines Lebens wohl verdient.« Ohne auf Letzteres einzugehen, fuhr Nevera fort: »Ich weiß, dass du es dir zum Ziel gesetzt hast, die Mörder deiner Mutter zu finden und sie bezahlen zu lassen. Nun, ich kann dich enttäuschen und ermutigen: enttäuschen, weil wir Dichter dir bereits zuvorgekommen sind, und ermutigen, weil es noch viel für die Gerechtigkeit zu tun gibt. Und ich will dir auch sagen, weshalb wir die Blutbücher überhaupt schreiben - wir tun es nicht aus Spaß und Böswilligkeit, wie du wahrscheinlich denkst, wir tun es nicht, weil wir verrückt sind oder schlichtweg, weil wir es können. Nein. Die Blutbücher
sind die einzige Möglichkeit, unsere Feinde unschädlich zu machen.« Nevera wartete einen Moment lang Apolonias Reaktion ab, dann löste sie die gefalteten Hände und griff nach ihrer Tasse. Nachdenklich rührte sie mit einem Löffel im Tee, obwohl er bestimmt nicht mehr heiß war. »Ich gehe davon aus, dass Morbus dir demonstriert hat, wie die Blutbücher funktionieren und was man mit ihnen bewirken kann.«
    »Wenn Sie den Raub von Erinnerungen und die Beeinflussung des menschlichen Willens meinen, dann allerdings«, gab Apolonia zurück, doch es klang längst nicht mehr so angriffslustig, wie sie es sich vorgenommen hatte. Nevera hatte sie ins Zweifeln gebracht.
    »Nun.« Nevera hob den Blick nicht von ihrem Tee. »Wie ich mir gedacht hatte. Jonathan hat einen äußerst wichtigen Teil ausgelassen, was den Sinn der Blutbücher betrifft. Für ihn als Künstler mögen die Bücher einen gewissen Reiz besitzen, das muss ich wohl einräumen. Für mich aber sind sie Nutzobjekte. Notwendige Nutzobjekte. Begreifst du denn noch immer nicht, Liebes? Wir fangen nur die Erinnerungen von Motten, die eine Gefahr für die Menschheit darstellen! Es ist der einzige Weg, um ihnen Einhalt zu gebieten: Sie müssen vergessen, wer sie waren und was sie konnten, sonst zerstören sie die Ordnung der Welt mittels ihrer Kräfte! Denn Gaben wie die unsrigen gehen mit finsteren Brüdern einher - Gier und Macht und Größenwahn, Apolonia. Glaubst du allen Ernstes, die Menschheit hätte sich so friedlich entwickeln können, wäre es in der Vergangenheit allzu vielen Motten gelungen, ihre düsteren Absichten in die Tat umzusetzen? Kriege, Apolonia, Kriege von unermesslichem Ausmaß wären schon längst ausgebrochen, hätte es nicht immer Motten gegeben, die ihren dunklen Genossen Einhalt gebieten! Die Welt, die du tagtäglich von deinem Fenster aus siehst, mag dir
geregelt und harmlos erscheinen. Doch darunter wütet seit Jahrhunderten eine Schlacht zwischen Gut und Böse. Der Frieden der Welt liegt seit jeher in den Händen weniger, auch wenn ihre Namen nie berühmt, ihre Taten nie bekannt werden. Wenige Motten sind es, die ihre außergewöhnlichen Gaben dazu einsetzen, das Böse in Schach zu halten - denn Gaben, wie wir sie haben, sind nicht dazu geschaffen, von Menschen eingesetzt zu werden. Zu groß ist die Macht. Zu groß die Verlockung … und nur wenige, sehr wenige können ihr widerstehen, um jene, die es nicht können, aufzuhalten. Wir Dichter sind diese wenigen.
    Unsere Feinde, die einzigen wahren Feinde der zivilisierten Welt, Apolonia, haben einst deine Mutter getötet. Sie waren es, die das Geschäft deines Vaters in Brand gesetzt und ihm den Verstand geraubt haben. Sie sind es, vor denen ich dich beschützen wollte, indem ich dich hierherbringen ließ! Sie … nennen sich der Treue Bund der Kräfte. Kurz TBK. Ihre Gabe erlaubt ihnen, ihren Gegnern alle physische Kraft abzuziehen und für ihre Zwecke zu

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