Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
wegsehen, denn er schien ihre Gefühle sehr deutlich zu erahnen - doch das wäre ebenfalls ein Zeichen von Schwäche gewesen, und so kam sie sich für einige schrecklich lange Momente gefangen vor. Sie schluckte schwer.
»Ihr sagt mir also, dass ich gar keine Wahl habe - dass ich eine Dichterin werden muss, ob freiwillig oder nicht?«
Morbus schlug die Augen nieder und entließ sie so aus dem Bann seines Blicks. »Du… bist noch sehr jung. Darum tut es mir auch besonders leid, dass ausgerechnet du in unseren Kampf mit hineingezogen wirst. Glaube mir, ich wünschte, ich hätte dir nie von uns Dichtern erzählen müssen! Aber du bist eben in gewisser Weise… auserwählt. Leider, fürchte ich. Und doch« - er blickte kurz auf - »doch ist dies eine Chance, die die meisten Menschen, die wie du gelitten haben, niemals bekommen. Du kannst deine Eltern rächen. Deine Mutter, Magdalena. Und deinen Vater. Auch an seinem Elend sind die
Bundmotten schuld, denn sie haben den Brand in eurer Buchhandlung gelegt. Ich glaube, das ist dein Schicksal, Apolonia: Du bist die Tochter einer großen Dichterin gewesen, und nun musst du das weiterführen, wofür deine Mutter einst ihr Leben ließ, denn ein Teil von ihr lebt in dir. Du hast, auch wenn es dich erschrecken mag, wirklich keine Wahl - aber wer hat die schon? Wir sind alle mit einer Bestimmung geboren, mit Gaben und Kräften, über die wir nicht entscheiden können.«
Apolonia spürte, wie ihr Kinn zitterte. »Magdalena wollte mit ihren Gaben an die Öffentlichkeit gehen, darum wurde sie umgebracht. Ich habe nie mitbekommen, dass sie in einen Kampf verstrickt war. Dabei war der Putschversuch des TBK ja im gleichen Jahr. Ich hätte wissen müssen …«
Morbus warf Nevera einen Blick zu, doch sie beachtete weder ihn noch Apolonia und verfolgte abwesend den wabernden Rauch ihrer Zigarette. »Du warst damals ein kleines Kind«, sagte sie leise. »Zudem hatte Magdalena ihr Schweigegelübde zu wahren. Wahrscheinlich wusste selbst dein Vater nichts von ihrer Mission - wir halten sie geheim. Magdalena ist nicht ermordet worden, weil sie mit uns Motten an die Öffentlichkeit gehen wollte. Sie wollte die Machenschaften des TBK aufdecken. Fast wäre es ihr gelungen. Aber der Treue Bund hat es vereitelt, indem sie erst Magdalena töteten, dann unsere Beweise zerstörten und abermals untertauchten. Bis jetzt ist es uns nicht gelungen, ihre Verbrechen ans Tageslicht zu bringen. Und ich sage ganz bewusst bis jetzt … denn nun bist du bei uns. Und wirst das Werk von Magdalena zu Ende bringen.«
Apolonia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Morbus und Nevera schienen auch keine Antwort zu erwarten. Schweigen breitete sich aus. Schließlich wollte Morbus das Wort ergreifen, doch kaum hatte er den Mund geöffnet, klopfte es an der Tür. Alle drehten sich um.
Der Diener von vorhin steckte den Kopf durch die Tür.
»Mein Herr, verzeihen Sie die Störung. Herr Noor und Herr van Ulir sind soeben eingetroffen.«
»Dann sind wir also komplett«, murmelte Morbus. »Schicke meine Gäste bitte herein, Philipp.«
Der Diener schloss die Tür.
Mit einem unsicheren Lächeln wandte Morbus sich an Apolonia. »Ich hoffe, du verzeihst, dass wir dich mit der Wahrheit so überfallen. Aber wir alle haben so bedauert, was bei unserer letzten Begegnung geschehen ist, dass die übrigen Dichter sich bei dir persönlich entschuldigen und vorstellen wollten. Ich fürchte, wir waren damals in der Lagerhalle einfach zu impulsiv - und auch ängstlich, du könntest uns missverstehen, was ja leider geschehen ist. Verzeih mir bitte.«
Sechs Männer betraten den Raum, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und doch alle so unscheinbar wirkten, dass man sie in einer Menschenmenge nicht wiedererkannt hätte. In einer Reihe stellten sie sich vor Morbus auf und warteten, bis er sich erhoben hatte.
»Meine Herren«, sagte er feierlich, »begrüßen Sie unser jüngstes Mitglied: Apolonia Spiegelgold. - Wenn ich dir die Dichter vorstellen darf«, fuhr Morbus fort und zeigte mit der Hand auf den blonden Mann, den Apolonia als den Dichter wiedererkannte, der Morbus in der Lagerhalle Papier und Tinte gebracht hatte. »Wilhelm Kastor, seit zwei Jahren bei uns.«
»Es ist mir eine Ehre«, sagte der Dichter und deutete eine Verneigung an.
Morbus stellte den Nächsten vor: »Alfonso Jacobar, der äußerst nützliche Verbindungen zur Unterwelt hat und bereits zahllose Bundmotten unschädlich machen konnte.« Der
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