Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Balken.
Die Dichter folgten ihm lärmend. Dann hatte er die Tür erreicht, die den Gang vom angrenzenden Korridor trennte. Vampa schwang sich von dem Balken, stieß mit der Schulter die Tür auf und taumelte in den Korridor. Seine Füße schlitterten über den polierten Steinboden.
Er fühlte sich, als würde er gar nichts mehr wiegen. Er glitt vorwärts wie eine Feder im Wind, gelangte zur nächsten Tür, stieß sie auf, rannte weiter, schlug wieder eine Tür auf, rannte, rannte. Entfernten sich die Stimmen der Dichter? Oder war das Pochen in seinen Ohren so laut, dass es den Lärm übertönte?
Schon erreichte er die Spiraltreppe. Das Licht der Glaskuppel glitt über ihn wie ein Schleier längst verloren geglaubter Hoffnung. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte er hinauf, Kurve um Kurve, dem Licht entgegen. Unter ihm schrien die Dichter. Ihre polternden Schritte ließen das Treppengeländer beben.
Vampa schlitterte in den Pavillon und geradewegs ins dichte Grün der Pflanzen, die sich gegen die Fenster drückten. Er stolperte gegen einen Korbsessel und riss einen Glastisch um, doch noch bevor sich die Scherben über den Boden verteilten, war er weitergerannt. Ein Gang führte aus dem Pavillon, und Vampa stürzte in das erstbeste Zimmer, das er fand. Ein erschrockener Diener, der gerade den Fensterrahmen gewischt hatte, starrte ihn an. Vampa stieß ihn zur Seite, riss das Fenster auf und sprang hinaus.
Er landete auf einem steilen Dachvorsprung, zwanzig Meter über dem Erdboden. Geduckt huschte er den Vorsprung entlang, bis er eine Turmspitze erreichte, die gut zwei Meter entfernt in den Himmel zeigte. Vampa sprang.
Seine Knie schlugen hart gegen die dunklen Ziegel, er krallte
sich mit den Händen fest und rutschte das Turmdach bis zur Regenrinne hinab. Rote Striemen zogen sich durch seine Handflächen.
An dem Fenster, aus dem er geflohen war, hatten sich die Dichter versammelt. Ihre Rufe verstummten, als er das Turmdach umrundete, ihren Blicken entschwand und sich nach der Krone eines Ahornbaumes ausstreckte. Die kahlen Äste waren gerade in seiner Reichweite, doch sie waren hier oben dünn und würden sein Gewicht nicht lange halten. Vampa packte mehrere Zweige auf einmal und stieß sich mit den Füßen vom Dach ab. Der ganze Baum schien sich in die Tiefe zu neigen, als er durch die Luft segelte. Erstaunte Ausrufe erklangen, denn nun konnten die Dichter ihn wieder sehen. Der Baum knarrte. Die Zweige brachen einer nach dem anderen. Vampa flog geradewegs in das dichte Geäst hinein. Ihm war, als bohrten sich Messer von allen Seiten in seinen Körper. Die Zweige zerrissen seinen Mantel, zerkratzten ihm die Brust, peitschten sein Gesicht. Er griff nach allem, was er zu fassen bekam, um nicht zu stürzen. So hing er an die Äste geklammert wie eine zerknitterte Zeitung, die der Wind hinaufgeweht hatte. Der Baum schwankte noch immer hin und her und Wolken von Pulverschnee umhüllten ihn. Plötzlich fiel ein Schuss. Holzsplitter flogen von dem Ast, an dem er sich festhielt, und der Schnee spritzte in alle Richtungen.
»Hört auf! Ihr Schwachköpfe! Er kann nicht sterben!«, schrie eine Stimme, doch sie ging im Rufen und im Lärm der Schüsse unter.
Vampa kletterte den Baum hinunter, bis er den Ast einer nahe stehenden Eberesche greifen konnte. Sanft neigten sie sich unter seinem Gewicht dem Boden zu, sodass er abspringen konnte und strauchelnd auf der weichen Erde landete. Unter seinem Fuß knackte ein Zweig, sonst herrschte tiefe Stille. Die Rufe der Dichter waren bereits so fern, dass man
sie nicht mehr verstehen konnte. Vampa richtete sich schwerfällig auf. Sein keuchender Atem gefror zu Wölkchen und hüllte sein Gesicht mehrere Augenblicke lang in Dunst.
Als er zu rennen begann, erst taumelnd, dann immer sicherer, bis seine Lungen brannten, begleitete ihn nur das Knistern der Tannennadeln, die seine Schritte dämpften.
Die Dämmerung senkte sich über Wald und Felder. Im Dorf gingen Lichter an, Hunde bellten, als ihre Herren nach Hause kamen, und der Duft von Abendessen sickerte durch die Ritzen der dunstbeschlagenen Fenster. Vom mattblauen Himmel fielen vereinzelte Schneeflocken, die im Licht der Laternen glitzerten wie herabrieselnde Sterne. Wenn es noch eine Weile weiterschneite, würden Vampas Fußspuren bald verschwunden sein.
Er war so nah an das Dorf herangekommen, wie es ging, ohne den Wald zu verlassen. Als es dunkler geworden war, hatte er das letzte Stück durch die Obstgärten
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