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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Erkenntnisse kann man nicht weinen, nur lachen.
    »Halt deinen Mund!«, fauchte einer der Dichter.
    »Er ist irr, aber das werden wir ihm noch rausschreiben.«
    »Nein, die Sprache schreiben wir ihm raus, damit er nicht mehr redet - den Irrsinn kann er behalten!«
    Er hatte seine Vergangenheit verlieren müssen, denn nur mit ihr hatte er seine Schrecklichkeit, seine Schuld verlieren können. Er hatte seine Gefühle aufgeben müssen, denn er hatte nur den Hass gehabt …
    Und jetzt? Jetzt sollte ihm gleich wieder genommen werden, was er erfahren hatte. Dann wäre alles fort - das Wissen um seine wahre Identität, die Erinnerung an Blutbücher, an die Dichter, an Motten, an ihn selbst und die vergangenen neun Jahre. Und fort wäre Tigwid. Fort wäre Apolonia.
    Vampa dachte nicht an seine Vergangenheit, die er nach neun Jahren endlich gefunden hatte. Er dachte nicht an die
lieblichen Blutbücher, die er gelesen hatte. Er dachte nicht daran, wie er erneut aufwachen würde, irgendwo im Schnee, ein erfrorener Vierzehnjähriger, der in seinem leeren Gedächtnis nach einem Gedanken tastet und nicht einmal Angst vor sich selbst finden kann. Er würde alles noch einmal erleben, den ganzen, endlosen Albtraum von vorne träumen, ohne es zu wissen. Aber das war es nicht, woran Vampa dachte. Er dachte an Apolonias Gesicht.
    Ihr Gesicht mit den Augen, die nur auf ihn gerichtet waren und das Nichts in ihm durchbrachen. Er würde es verlieren, sobald die Dichter ihr Werk vollbrachten. Es würde sein, als hätte er sie nie gekannt.
    Vielleicht war er ein schlechter Mensch gewesen, vielleicht hatte er das wache Totsein verdient, das sich in alle Ewigkeiten fortsetzen würde - aber es war ihm egal! Vampa kannte keine Gefühle, keine Reue, keine Feigheit, er wusste nur eins: Er wollte ihr Gesicht behalten. Für immer. Und wenn er noch in hundert, in tausend Jahren im Kanalschacht am Fluss liegen würde, ihr Gesicht sollte bei ihm sein bis zum Ende der Zeit.
    Längst war die lange Spiraltreppe hinter ihnen zurückgeblieben. Sie liefen einen breiten, fensterlosen Korridor entlang. Doppeltüren aus lackiertem Holz unterbrachen ihren Weg immer wieder. Buchstaben und Symbole waren in das Holz geschnitzt . J. M. , die Initialen des Grafen von Caer Therin, zierten in geschwungenen, großen Lettern die Türen, und darunter ein kleineres, geschnörkeltes N. für Nevera. Jede Tür, die vor Vampa geöffnet wurde, fiel laut wieder hinter ihm zu, so wie die Vergangenheit. Es gab kein Zurück. Die Buchstaben auf den Türen besiegelten sein Schicksal.
    J. M. … N. …
    Ein dumpfer Knall, die Tür war zu. Wieder, J. M. dann N. , er trat hindurch, die Tür schloss sich hinter ihm.

    Es würde ihm alles genommen werden, jetzt gleich.
    Apolonias Gesicht!
    Vampa stieß ein lang gezogenes Schluchzen aus, bäumte sich auf und riss sich so plötzlich los, dass die Dichter ihn nicht halten konnten. Heillose Panik brach aus.
    »Er will ausreißen!«
    »Schlagt ihn! Schlagt ihn nieder!«
    »Er muss bei Bewusstsein bleiben! Haltet ihn fest!«
    Vampa trat und boxte um sich, eine Brille wurde unter seiner Faust zertrümmert und ein Dichter jaulte schmerzerfüllt auf. Dann hoben seine Füße vom Boden ab: Die Dichter hatten seine Knöchel, Füße, Schultern, seine Taille und Schultern umschlungen und trugen ihn in ihrer Mitte.
    »Nein! Neein! « Vampa schrie, sein Herz flatterte ihm wie ein verschluckter Vogel in der Brust. Was war dieses Etwas in ihm? Wieso schlug er um sich? Wieso war ihm Apolonias Gesicht so kostbar… Er dachte nicht darüber nach, obwohl die Fragen ihm in Sekundenbruchteilen durch den Kopf schossen. Er wusste bloß, dass ihr Bild ihm gehörte. Er würde es niemals zurückgeben.
    Er wand sich in den Armen der Dichter, krallte sich an ihren Kehlen fest und versuchte, sich ihren Griffen zu entziehen.
    Noch eine Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Es ging fünf Stufen hinab, dann erreichten sie einen engen Gang, der von niedrigeren Querbalken gestützt wurde. Vampa nutzte den Augenblick, in dem die Dichter ihn die nächsten drei Stufen hinabtrugen, um seine Arme freizureißen. Die Dichter stolperten die Stufen hinunter. Vampa streckte sich nach den Deckenbalken aus und zog sich daran hinauf. Unter ihm schwoll Geschrei an. Er krallte sich mit Händen und Beinen an dem Balken fest; dann kletterte er daran hoch, kam auf die Füße und sprang auf den nächsten Querbalken. Als er sein Gleichgewicht
wiedergefunden hatte, sprang er schneller von Balken zu

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