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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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zurückgelegt und war in die offene Scheune des nächsten Hofes geschlichen. Lautlos kletterte er auf den Heuboden und tastete sich durch die Finsternis, bis er eine Ecke erreichte und sich im Stroh niederließ.
    Es war bitterkalt. Er zog die Knie dicht an den Körper und versuchte, sich selbst zu umarmen. Dann schloss er die Augen, lehnte den Kopf gegen die Wand und lauschte. Aber er hörte nur die Schweine, die unter ihm in ihren Ställen grunzten.
    Es war zu erwarten, dass die Dichter ins Dorf kamen und die Höfe nach ihm durchsuchen ließen. Vielleicht gelang es Vampa, ihnen noch einmal zu entwischen. Fest stand, dass er vorerst hierbleiben musste, um sich zu sammeln und zu überlegen, was er weiter tun sollte.
    Zurück in die Stadt konnte er nicht, jedenfalls nicht gleich;
es gab nur eine Straße, umgeben von Feldern, und höchstwahrscheinlich suchten die Dichter ihn dort zuerst. Er würde mindestens bis zum Morgengrauen warten müssen, dann erwischte er womöglich einen Postwagen und konnte sich mitnehmen lassen. Wenn er dann wieder zurück war, könnte er versuchen, diesen Collonta und den TBK zu finden. Er könnte ihnen erzählen, was er erfahren hatte - vielleicht würden ihn manche Terroristen sogar wiedererkennen, an die er sich selbst nicht mehr erinnerte - und dann wäre er wieder der, der er vor neun Jahren gewesen war. Er hätte sein Leben zurück. Nur seine Gefühle, die wären noch in irgendeinem Buch.
    Vampa wandte den Kopf hin und her und wischte sich die Nase. Nein, er wollte nicht zum TBK, was würde ihm das denn nutzen? Der Gedanke daran, zu ihnen zu gehören, ließ ihn völlig kalt. Genauso gut könnte er das Leben eines Schornsteinfegers oder eines Schweinehirten annehmen, so wenig schien es mit ihm zu tun zu haben.
    Er öffnete die Augen, aber es blieb so finster, als hielte er sie noch geschlossen. Erst allmählich erkannte er den schwachen bläulichen Schimmer, der ihm gegenüber ein Loch im Holz umzeichnete. Er stellte sich Apolonia bestimmt zum hundertsten Mal vor, seit er geflohen war. Er dachte an die Lichter, die er in ihren Augen gezählt hatte, ein Glitzern am Rand der Wimpern, verschwunden mit dem nächsten Blinzeln … er hatte das bewirkt. Er war Grund für diese winzigen, funkelnden Lichter gewesen, die schneller erloschen waren, als ein Herzschlag dauerte. Ganz vage spürte er etwas in sich, das seiner Ungewissheit, was er weiter tun sollte, ein Ende setzte. Er würde nicht zum TBK zurückkehren, ob dort sein früheres Leben zu finden war oder nicht. Er wollte nicht dem Bösen angehören. Denn vielleicht war der Raub seiner Persönlichkeit ja wirklich richtig gewesen, zum Wohle der Welt … dagegen wollte Vampa sich nicht stellen. Apolonia gehörte doch
zu den Guten. Und wenn er schon nicht zu ihr gehören konnte, wollte er zumindest nicht gegen sie sein …
    Vampa wurde schlecht und heiß und kalt in rascher Abfolge. Mit heftig klopfendem Herzen wurde ihm bewusst, dass er nicht nur eine Entscheidung getroffen hatte - er fühlte. Er hatte aus einem Gefühl heraus beschlossen, nicht zu seiner Vergangenheit zurückzukehren.
    Gelähmt von dieser Erkenntnis, saß er im Dunkeln.
     
    Das weiche Licht einer Petroleumlampe schälte sich aus der Nacht. Stöhnend wandte Tigwid den Kopf. Seine Schulter schmerzte unerträglich, und mit jedem Atemzug war ihm, als zöge jemand Draht durch seine Haut. Blinzelnd öffnete er die Augen, sodass das Licht nicht mehr nur ein Flimmern um seine Wimpern war. Über ihm erschien eine Zimmerdecke, von der die Farbe abblätterte wie schuppige Haut. Tigwid sah an sich hinab und entdeckte eine graue Wolldecke, die ihm bis zur Brust hochgezogen war.
    Was war passiert?
    Nur schleppend, bruchstückhaft kehrte die Vergangenheit zu ihm zurück.
    Die Brücke. Er war gerannt. Und dann der brennende Schmerz. Der Boden war unter seinen Füßen fortgesunken und dann … Ja, was war dann geschehen? Wo war er hier gelandet?
    Das Gefängniskrankenhaus konnte es nicht sein, dazu war es viel zu ruhig. Und irgendwo in Mone Flamms Gewalt konnte er ebenso wenig sein, dazu war er viel zu lebendig.
    Tigwid sammelte seine Kräfte, um sich aufzurichten. Mit zittrigen Fingern streifte er die graue Decke ab und spürte erschrocken, dass er nichts darunter anhatte. Er lüftete die Decke ein zweites Mal - wenigstens eine Hose trug er noch, doch es war eine viel zu große, schmuddelige Stoffhose, die
ihm nicht gehörte. Um seine Schulter und seine Brust war ein fester Verband

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