Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
gewickelt.
    »Hallo«, sagte eine ruhige Stimme.
    Tigwid drehte den Kopf. Jenseits des Lichtscheins bewegte sich jemand, dann tauchte ein eckiges Gesicht in die Helligkeit. Schatten saßen unter den Brauen und über dem kräftigen Kinn, doch die dunklen Augen trugen ein Leuchten von zarter Leidenschaft in sich. Tigwid hatte den Jungen, der sich an seine Matratze gehockt hatte, im ersten Moment für einen erwachsenen Mann gehalten, doch allmählich erkannte er, dass er höchstens zwei Jahre älter als er selbst sein konnte.
    Tigwid stützte sich mühselig auf einen Ellbogen, dann auf die Hand, um aufrecht sitzen zu können. Ein stechender Schmerz durchzog seine Schulter. Er biss die Zähne zusammen.
    »Ist es sehr schlimm?«, erkundigte sich der junge Mann. »Wir haben alles versucht, aber um ehrlich zu sein … nun, ich weiß leider nicht, wie es um Marts medizinisches Können steht.«
    »Wo bin ich?«, fragte Tigwid.
    Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Fremden und ließ ihn Jahre jünger wirken. »Du bist in Sicherheit. Ich hoffe, das beantwortet deine Frage im Wesentlichen.«
    »Und wer bist du?« Tigwid scherte sich nicht darum, höflich zu klingen, auch wenn der Junge oder sein Freund ihn offenbar verarztet hatten.
    »Ich bin Fredo«, sagte der Fremde und streckte ihm eine kräftige Hand hin. Obwohl es Tigwid einige Mühe kostete, sein Gewicht nach vorne zu verlagern und ihm die Hand zu schütteln, tat er es und stellte sich vor: »Tigwid.«
    Fredo runzelte die Stirn. »Tigwid? Ich dachte, du heißt Jorel.«
    Tigwid musterte ihn misstrauisch. »Wer hat das gesagt?«

    »Bist du denn nicht Jorel? Wenn nicht, haben wir den Falschen aus dem Wasser gezogen.« Fredos finsterer Ton überzeugte Tigwid, ihm ein wenig zu vertrauen.
    »Jorel wird höchstwahrscheinlich von einem Dutzend mordlustiger Halsabschneider gesucht, die Mone Flamm angeheuert hat. Deshalb bin ich momentan lieber Tigwid.«
    »Aha«, sagte Fredo. »Hier musst du niemanden fürchten, wer auch immer dich jagt. Keiner kommt hierher, ohne dass wir es wollen oder zumindest wissen.«
    Tigwid gefiel, dass Fredo ihn nicht fragte, wieso er gesucht wurde.
    »Hast du Hunger?«, erkundigte er sich stattdessen. »Loo hat schon heute früh Linseneintopf für dich gemacht, denn wir hatten gehofft, du würdest früher aufwachen. Aber sie wärmt ihn bestimmt sofort für dich auf.«
    »Ist ja unwahrscheinlich nett, aber… wer ist denn Loo überhaupt?«
    Fredo öffnete den Mund, um zu antworten, als ein Mädchen hinter ihm ins Licht trat. Sie trug graue Männerhosen, ein weißes Hemd und eine offene Jacke. Glänzendes schwarzes Haar, das zu einem hohen Zopf gebunden war, fiel ihr über die Schulter. »Loo ist die liebenswürdigste Person auf Erden - das wollte Fredo bestimmt gerade sagen. Und wahrscheinlich hat er recht. Niemand sonst würde für unseren Haufen so fürsorglich kochen.« Das Mädchen lehnte sich mit einem Lächeln über Fredo hinweg und reichte Tigwid die Hand. »Ich heiße Zhang. Willkommen bei uns, Jorel.«
    Er schüttelte ihre Hand und starrte sie unverhohlen an. Zhang sah nicht aus wie die anderen Mädchen, die Tigwid kannte. Sie sah aus wie die Serviererinnen aus Himmelszelt .
    »Wundert dich, dass ich eure Sprache so gut kann? Meine Eltern sind zwar nicht von hier, aber ich bin hier geboren.« Als Tigwid schwieg, fuhr Zhang fort: »Ich spreche kaum Chinesisch,
ich bin in einem Wanderzirkus aufgewachsen.« Sie stützte die Hände in die schmalen Hüften und wandte sich an Fredo. »Du hättest mal die Leute in den abgeschiedenen Dörfchen sehen sollen, an denen wir mit dem Zirkus vorbeigekommen sind. Die haben asiatische Leute noch nie gesehen und dachten, ich wäre so was wie eine Elfe oder ein Kobold.« Sie stieß ein helles Lachen aus und warf ihren langen Zopf zurück. »Ich kann auch anders aussehen, wenn dich das überfordert«, erklärte sie und wies in einer unbestimmten Geste auf ihre Augen.
    »Nein, überhaupt nicht«, beeilte sich Tigwid zu sagen - doch dann verstummte er mitten im Satz. Das ovale Gesicht des Mädchens war breit und flach geworden. Die pechschwarzen Haare hatten sich zu grauen Krausellocken eingekringelt. Die mandelförmigen Augen waren tief unter die Brauen gesunken und hatten ihre Form vollkommen verändert. Zhang war verschwunden und an ihrer Stelle stand eine alte Frau an Tigwids Matratze. Tigwid konnte nicht verhindern, dass ihm der Mund aufklappte.
    »Tja. Ich sag ja, die Leute dachten, ich wäre ein

Weitere Kostenlose Bücher