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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Bauern gemästet werden, damit er sie bald schlachten kann. Wenn du mit den besten Absichten zu den Schweinen treten und sagen würdest: ›Tötet den Mann, der euch mit Nahrung versorgt!‹, würden sie dich auslachen und vertreiben. Stattdessen kannst du aber auch sagen: ›Tötet den Mann, der eine Axt besitzt, denn er kann sie gegen euch erheben!‹, und die Schweine tun, was du ihnen vorgeschlagen hast. Im Grunde läuft beides auf dasselbe hinaus, aber das weißt bloß du - die Schweine sind dümmer. Obwohl es nur zu ihrem Vorteil ist, den Mann umzubringen, der sie mästet, können sie nicht so weit vorausblicken. Sie sind kurzsichtig. Darum ist es so wichtig, wie du dich artikulierst. Worte regieren die Welt. Wenn du die Kunst der Worte beherrschst, liegt die Menschheit dir zu Füßen.«
    Nevera lächelte geheimnisvoll. »Die Worte eines Dichters …«
    »Für einen Dichter steckt aber ganz schön viel Politiker in Ihnen«, bemerkte Apolonia.

    »Nein …« Morbus zog eine verächtliche Grimasse. »Ich bin nicht an Wählerstimmen interessiert. Was für mich zählt, ist das zarte, fleischlose Etwas - viele nennen es Seele -, das unter hundert hässlichen Schalen im Menschen verborgen liegt und das man nur als Künstler berühren kann.«
    »Die Worte eines Dichters, fürwahr.« Apolonia lächelte. »Dann sagt mir, wie ich mich in dem Interview ausdrücken soll.«

Der Meister

    W ie riesig war der Himmel hier draußen, auf dem Land, wo keine Hausreihen ihn eingrenzten. Er öffnete sich über Apolonia wie ein unfassbares, blindes Auge, milchig trüb, mit einem Blick, der überall und nirgends hinging. Einen Moment verweilte sie zwischen Haustür und Hof und starrte hinauf in die blaudunstige Morgendämmerung. Dann streifte sie die Handschuhe über und folgte Nevera in die Kutsche, die sie in die Stadt zurückbringen sollte. Ein Peitschenknall, klirrendes Pferdegeschirr, Hufschlag und knirschender Kies unter den Wagenrädern - schon verließen sie das Anwesen von Caer Therin und die dunklen Bäume huschten vorüber wie schlafende Traumgestalten.
    Es war bereits alles bis ins kleinste Detail besprochen worden, sodass Schweigen zwischen Apolonia und ihrer Tante herrschte. Während Nevera die Abwesenheit ihres Mannes tatkräftig ausnutzte und sich ihre erste Zigarette am Morgen anzündete, lehnte Apolonia ihre Schläfe gegen die gepolsterte Wand und sah aus dem Fenster.
    Im Norden war der Himmel perlfarben, ganz rein und glatt, mit einem lila Hauch darüber, als wäre er über seine offensichtliche Schönheit in Verlegenheit geraten. Im Osten erschien das erste Licht der kränklichen Novembersonne.
Die Farben des Horizonts sickerten durch die kahlen Steckenbäume, und der Horizont selbst schien schmutzig gelb, ein wenig entzündet, ein wenig schwach, aber mit der deutlichen Euphorie des Lebens, das den Kampf der Geburt überstanden hat.
    Mit schläfriger Ruhe wartete Apolonia die lange Fahrt ab. Sie würde den Journalisten treffen, die bereits bekannten Fragen mit den wohl zurechtgelegten Antworten erwidern, nach Hause - das hieß, zu ihrem Onkel - fahren, »nach dem Rechten sehen«, wie Nevera gesagt hatte, und ihre Sachen holen.
    Es war besser, wenn sie in nächster Zeit in Caer Therin wohnte. Erstens konnte sie sich dabei ungestört ihren Studien mit Morbus widmen, zweitens war sie dort vor dem TBK sicher, der vom geheimen Hauptsitz der Dichter nichts wusste. Der Umzug machte Apolonia nichts aus. Wenigstens versuchte sie, sich das einzureden. Schließlich war das Haus ihres Onkels nie ihr Zuhause gewesen. Sie hatte immer gewusst, dass es eine vorübergehende Bleibe war. Viel abzuholen gab es auch nicht: Ein paar Kleider, Bücher, ihre Geige … der bereits erwartete Sehnsuchtsschmerz stach ihr in die Brust, als sie an die Tiere dachte. Sie würde ihre Freunde eine lange Zeit nicht mehr sehen und ihnen vor allem nicht mehr helfen können, wenn sie in Not waren. Allein der Gedanke an Rache und Gerechtigkeit konnte dieses Opfer erträglich machen.
    Die Zeit verstrich. Als es Tag geworden war, erreichten sie die Stadt und fuhren durch die belebten Straßen, die Apolonia viel lauter und irgendwie farbloser vorkamen als sonst, so als würde sie alles durch eine Linse der Trostlosigkeit sehen. Bald kamen sie zu einem Kirchplatz, der von zahlreichen Konditoreien und Cafés umgeben war. In einem davon war Apolonia mit dem Journalisten verabredet. Die Kutsche hielt vor einem reich dekorierten Schaufenster, auf dem mit

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