Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
Licht verströmten. Durch die hohen Fenster konnte man den Wald und die Parkanlage überblicken, die zusehends mit der Dunkelheit verschmolzen. Rechts standen ein großes Himmelbett und ein schwerer Schreibtisch, links gab es einen großen, von Eisendrachen bewachten Kamin und eine Tür zu einem anliegenden Zimmer, vermutlich einem Bad, denn Apolonia hörte das Rauschen von Wasser. Sie blieb eine Weile auf der Stelle stehen und blickte durch das Zimmer, ohne etwas wahrzunehmen. Fenster, Wald, Bett, Teppiche, Schreibtisch … all das waren bedeutungslose Informationen, die ihre Augen dem Hirn ganz umsonst lieferten, denn sie befand sich in einer merkwürdigen Trägheit, die ihr ganzes Denken lähmte.
    Morbus war ihr neuer Lehrer.
    Es war so absurd! Der Mann, den sie vor wenigen Stunden für den Mörder ihrer Mutter und ihren größten Widersacher gehalten hatte, würde jetzt Herrn Klöppel ablösen. Aber im Vergleich zu all den anderen Dingen, die sie erfahren hatte, war das nicht mal am schockierendsten.

    Aus dem anliegenden Bad erklangen Schritte, dann ein heller Schrei. »Apolonia!«
    Trude kam mit offenen Armen auf sie zugeflogen. Einen Augenblick später lag sie ihrem Kindermädchen in den Armen und rang nach Luft.
    » Ahhh! Ich habe mir solche Sorgen - wo waren - ich habe, und Ihre Frau Tante, und dann - Sie sind ja ganz blass, oh - was ist passiert ?!«
    Mit zittrigen Fingern wischte sich Trude ihre Tränen aus den Augenwinkeln, dann zog sie Apolonia in das anliegende Zimmer. Apolonia staunte über das große Bad, das im Vergleich zum Rest des Schlosses hochmodern ausgestattet war: In ein sechseckiges Becken schoss ein starker, dampfender Strahl Wasser. Für Handtücher und Waschutensilien war gesorgt, an einem Bügel hing sogar ein schwarzer Morgenmantel im orientalischen Stil.
    »Kommen Sie, ich kümmere mich schon drum«, murmelte Trude schniefend und half Apolonia aus ihren Kleidern. Das Becken war kurz vorm Überlaufen, und Trude stellte den Wasserhahn ab, als Apolonia sich ins heiße Bad sinken ließ. Ihr entfuhr ein erschöpftes Seufzen.
    »Wollen Sie etwas essen?«, fragte Trude. »Vorher wurde etwas hergebracht, ich glaube, kalter Truthahn und …«
    Apolonia winkte ab und lächelte. »Ich sitze doch im Bad, Trude … Abgesehen davon habe ich gefrühstückt, hatte zweimal Mittagessen und Tee und Kuchen.«
    Dabei hatte Apolonia jedes Mal kaum mehr als ein paar Bissen genommen, wenn Morbus und Nevera sie mit süßen und salzigen Stärkungen überhäuft hatten. Trotzdem spürte sie keinen Hunger - nur unsägliche Erschöpfung. Sie hatte den ganzen Tag im selben Zimmer verbracht, und obwohl sie sich höchstens bewegt hatte, um ihre Gabel in eine Nudel zu piksen, hatte sie selten anstrengendere Stunden erlebt. Offenbar
hatte ihr Kopf, indem er die Wahrheit verarbeitet hatte, Höchstleistungen erbringen müssen.
    Trude setzte sich an den Rand des Beckens und strich Apolonia behutsam mit einem Schwamm über die Schulter. Dabei entdeckte sie den Schnitt, den Morbus ihr zugefügt hatte, als er ihr in der Lagerhalle das Blut abgenommen hatte. Trude schien sich beherrschen zu müssen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen.
    »Was ist nur geschehen mit Ihnen«, flüsterte sie. »Dass der liebe Gott Ihnen ja nicht noch mehr Unglück hat zustoßen lassen als ohnehin, sonst …«
    Und ohne nachzudenken, beugte Apolonia sich vor und schloss die Arme um den dicken, weichen Bauch ihrer Kinderfrau. Den nassen Kopf auf ihre Schürze gelegt, presste sie die Augen zu und vergoss kostbare Tränen, die ihr mehr Erleichterung verschafften als alle Logik und jedes Grübeln der Welt.
     
    Pünktlich um halb acht klopfte ein Diener an ihre Zimmertür und führte Apolonia zum gemeinsamen Abendessen mit Morbus und Nevera. Inzwischen waren ihre Haare getrocknet, sie trug ein sauberes, schlichtes Kleid, das Nevera aus der Stadt für sie mitgebracht hatte, und war warm und schläfrig vom Baden und vom langen Sitzen vor dem Kamin.
    Es ging die breite Treppe hinab und quer durch die Eingangshalle, durch einen Flur, noch eine Treppe hinab und durch einen zweiten Flur. Während Apolonia sich im Haus umsah, konnte sie nicht entscheiden, ob seine beunruhigende Wirkung davon kam, dass es hier so verlassen war oder so lebhaft. Die Wände schienen sich mit ihrer gemusterten Tapete zu bewegen und die grellen Farben - Honiggelb und Giftgrün und Blutrot - zogen die Augen ständig in verschiedene Richtungen. Doch über all dieser geordneten

Weitere Kostenlose Bücher