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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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weißer Farbe Der Pfefferminzprinz geschrieben stand. Apolonia atmete
tief durch, dann gab Nevera ihr zwei Küsse auf die Wangen und umwölkte sie ein letztes Mal mit ihrem Parfüm und Zigarettenqualm. Apolonia war froh um den vertraut gewordenen Geruch.
    »In eineinhalb Stunden holt dich die Kutsche ab und wir essen zu Hause zu Mittag«, sagte ihre Tante noch, dann öffnete der Kutscher die Tür, und Apolonia stieg aus. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Schaufenster: ein blasses Gesicht, das ihr nichtssagend vorkam. Ein stiller, ferner Blick … Hinter ihr ratterte die Kutsche durch den dünnen Schnee davon. Apolonia öffnete die Tür zum Pfefferminzprinz . Glöckchen klimperten und ein Serviermädchen begrüßte sie und nahm ihr Mantel, Schal und Handschuhe ab.
    »Ich bin verabredet mit Herrn Brahms«, sagte Apolonia, und das Serviermädchen führte sie an plaudernden Pärchen und einer Kuchentheke vorbei zu einem Tisch in der hintersten Ecke, wo der Journalist wartete. Als er Apolonia sah, klappte er sein Notizbuch zu und erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln. Er hatte ein fröhliches Gesicht mit einem fliehenden Kinn und einer Brille, die auf einer spitzen Nase und unglaublich weit abstehenden Ohren ruhte.
    »Erfreut! Erfreut, Sie kennenzulernen, Fräulein Spiegelgold. Wilhelm Kastor hat mir schon von Ihnen erzählt. Bitte, nehmen Sie Platz. Darf ich Sie Apolonia nennen?«
    »Natürlich.«
    Sofort kritzelte Herr Brahms etwas in sein Buch - wie es schien, Notizen zu Apolonias Erscheinungsbild -, aber er schrieb so unleserlich, dass sie kein Wort entziffern konnte.
    »Nun, bestellen Sie sich doch etwas. Ich empfehle Ihnen den Bananenkuchen, sehr köstlich. Oder die Pfefferminzschokolade, für die der Pfefferminzprinz so berühmt ist.«
    Apolonia machte ihre Bestellung, damit das Serviermädchen verschwand. Sobald sie alleine waren, legte der Journalist
seinen Stift zur Seite und funkelte Apolonia an. »Ich weiß bereits über alles Bescheid. Den Artikel bekommen Sie vor der Veröffentlichung natürlich zur Ansicht. Ich muss sagen«, fuhr Brahms fort und streichelte mit einem halb verkniffenen Lächeln den Henkel seiner Kaffeetasse, »ich finde es überaus aufregend, Schöpfer einer Terroristengruppe zu sein.«
    »Wir erfinden den TBK nicht«, erwiderte Apolonia nüchtern. »Wir zeichnen lediglich das Phantombild einer Verbrecherbande, die das Gesicht verdient hat, das wir ihr verpassen werden.«
    »Gewiss, gewiss.« Brahms lächelte verstohlen. »Sie sind noch sehr jung. Sie werden merken, dass das Schreiben immer etwas mit Erfindung zu tun hat.«
    »Das ist mir durchaus bewusst, wie Sie merken werden … Teil eins: meine Entführung.«
     
    Allmählich ging es Tigwid immer besser und seine Schusswunde verheilte dank der sorgsamen Pflege des TBK. Loo bekochte ihn mit Linseneintopf, Hühnerbrühe, Auflauf und Pudding wie die liebevolle Schwester, die er nie gehabt hatte. Auch Bonni und die anderen Mitglieder des Treuen Bunds kümmerten sich wie eine Familie um ihn, und Tigwid wurde klar, dass er nie so viel Freundlichkeit erfahren hatte wie hier, in dieser heruntergekommenen Wohnung voller leckender Leitungen, Berge aus zerlaufenem Kerzenwachs und Löcher in der Wand. Anfangs war er misstrauisch, schließlich hatte das Leben ihn gelehrt, dass man nichts umsonst bekam - außer man war ein guter Dieb. Was erwartete der TBK also in Gegenzug von ihm? Aber vielleicht … vielleicht gab es ja wirklich so etwas wie aufrichtige Nächstenliebe, die nicht auf Berechnung beruhte. Tigwid gefiel die Vorstellung.
    Während er wieder zu Kräften kam, hingen seine Gedanken fast pausenlos an Apolonia und Vampa. Er wusste noch
immer nicht, was aus ihnen geworden war, und je öfter er sich die Situationen ausmalte, in denen sie gerade stecken mochten, umso schlimmer kamen sie ihm vor. Er hätte Bonni oder ein anderes TBK-Mitglied bitten können, sich nach den beiden umzuhören, aber er wollte niemanden in die Sache hineinziehen. Der TBK hatte ihm geholfen - er war es, der Apolonia helfen musste. Gut möglich, dass sie auch festgenommen worden war … wenigstens wäre sie im Gefängnis vor den Dichtern sicher …
    »Woran denkst du?«, fragte Bonni, als sie sich neben ihn setzte und ihm ein Glas Wasser reichte. Dankbar nahm er das Glas entgegen.
    »Du bist doch diejenige, die alles sieht und weiß. Kannst du das nicht mit deiner Mottengabe, die Gedanken anderer ausspionieren?«
    Bonni lächelte ein wenig. »Ich bin Visionistin ,

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