Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
aber das heißt noch lange nicht, dass ich allwissend bin. Meistens sehe ich Dinge, nach denen ich gar nicht Ausschau gehalten habe.« Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und Tigwid nippte an seinem Wasser. »Du denkst an das Mädchen, stimmt’s? Die, die ich dir damals prophezeit habe.«
    »Siehst du, doch ausspioniert.«
    »Es ist nicht schwer zu erkennen, dass du an ein Mädchen denkst.«
    Tigwid verbarg das Gesicht hinter dem Glas und nahm zwei große Schlucke. »Ähm, wie bist du eigentlich zum TBK gekommen? Wo hat Collonta dich aufgegabelt?«
    »Ich bin von mir aus zu Collonta gekommen. Das war vor fünf Jahren, ich war vierzehn und habe gesehen, dass ich hierhergehöre.«
    »Ach, dann kommst du auch aus dem Waisenhaus?«
    »Nein«, sagte Bonni, »ich habe eine Mutter und einen kleinen Bruder. Ich besuche sie noch manchmal.«

    Tigwid konnte sich Bonni kaum als Tochter - oder als Schwester - von irgendwem vorstellen. Sie war doch viel zu … unnahbar. »Wissen sie denn über dein Leben Bescheid? Ich meine, der TBK und alles?«
    Bonni zuckte die Schultern. »Sie wissen, wie ich bin … mehr wollen sie auch gar nicht hören. Es ist alles in Ordnung, wie es ist, denke ich. Ich habe den Platz gefunden, an den ich gehöre, und niemand ist gekränkt.«
    Nachdenklich drehte er das Glas in den Händen. Als Kind hatte er sich immer eingeredet, Eltern brächten nur Ärger. Aber dass es mit einer Familie und einem festen Leben, in das man geboren wurde, manchmal tatsächlich schwieriger sein konnte als ohne, verstand er erst seit Kurzem. Was, wenn er einen verrückten Vater hätte wie Apolonia? Oder eine Mutter und einen Bruder, die er wegen seiner Mottengabe verlassen müsste wie Bonni?
    Ein lautes Scheppern drang aus einem anderen Zimmer und Bonni erhob sich. Dann waren Schritte im Gang zu vernehmen und einen Augenblick später stürmte ein alter, gebrechlicher Mann auf sie zu.
    »Jorel!«
    Tigwid konnte es kaum fassen. »Mart?« Es war zweifelsohne Mart, der Obdachlose - der Knopfsammler.
    »Wie geht’s dir?«, jauchzte der Alte und ließ sein Bündel von der Schulter fallen. »Alles wieder in Butter, he? Hab mir Sorgen gemacht, aber so einer wie du lässt sich nicht so schnell unterkriegen, nich wahr? Ja, wir sind vom gleichen Schlag, hart wie Backstein und zäh wie Stiefelleder!«
    Tigwid lächelte. »Was machst du denn hier? Gehörst du etwa auch zum TBK?«
    »Natürlich! Bin ein Geisterherr und treuer Anhänger von Collonta. Ich hätt’s dir viel eher gesagt, wenn ich gewusst hätte … aber du hast mir ja auch nie gesagt, dass du eine Motte
bist!« Das Lachen des Alten war so ansteckend, dass Tigwid mitmachen musste. Ausgerechnet Mart war hier! Und Tigwid hatte ihn immer für ein bisschen verrückt gehalten.
    »Ich dachte immer …« Tigwid räusperte sich. »Die Knöpfe und all das! Natürlich ist das eine geheime Sache des TBK gewesen, nicht? Jetzt kannst du mir endlich sagen, warum du immer so versessen darauf warst.«
    Marts zahnloses Grinsen war unverändert. »Wie meinsten das? - Oh, sieh mal, ich hab hier neue Exemplare!« Er drehte sich um und wühlte in seinem Bündel, das, wie Tigwid erkannte, vor Knöpfen fast überquoll. Mit einem verdatterten Blick wandte Tigwid sich an Bonni, die lächelnd die Schultern zuckte. Mart war also doch - einfach Mart.
    »Wie ist … übrigens … die Wunde verheilt?«, erkundigte sich der Alte, noch immer wühlend. »Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig vernäht hab.«
    Tigwid wurde aschfahl. » Du hast die Operation durchgeführt?«
    »Na klar! - Ah, hier ist das Prachtstück!« Und mit seinen schmutzigen Fingern hielt Mart einen strahlenden Silberknopf ans Tageslicht.
     
    Mit der Zeit lernte Tigwid die Mitglieder des Treuen Bunds besser kennen. Die meisten von ihnen stellten sich als Geisterherren vor - eine besondere Art von Motte, die Tigwid aber niemand genau beschreiben wollte, denn offenbar war Collonta derjenige, an den man sich mit Fragen wandte. Selbst die gesprächige Zhang, die oft zu ihm kam, ihm lesen und schreiben beibringen wollte, mit ihm Karten spielte und sogar ein paar Tricks zeigte, die er noch nicht kannte, wollte Tigwid nicht erklären, was einen Geisterherr oder eine Geisterherrin ausmachte.
    »Weißt du - nein, ich kann’s dir nicht erklären. Frag Collonta.
Ich könnte dir schon sagen, was es ungefähr ist, aber ich würde es wahrscheinlich so kompliziert ausdrücken oder lauter wichtige Sachen auslassen, dass du mich bloß

Weitere Kostenlose Bücher