Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
man es sich gründlich überlegt, bestehen doch neunzig Prozent des Lebens aus Wundern, der Rest ist nichts, ist Langeweile, ist Warterei. Was soeben geschehen ist, kann jeder Mensch empfinden, ob Motte oder nicht - ich nehme sogar an, dass auch
Tiere dieses Experiment nachspielen könnten, wenn sie wollten. Und wahrscheinlich wären die meisten Tiere darin sogar besser als die Menschen, denn je mehr man über dieses kleine Wunder nachdenkt, umso schwieriger wird es, daran teilzuhaben.«
Tigwid schwindelte. Er hatte also gerade ein Wunder am eigenen Leib erlebt und sich für wenige Augenblicke in ein Mädchen verwandelt, wozu überdies jeder gewöhnliche Mensch fähig war. Unauffällig strich er sich über Brust und Schulter, um zu prüfen, ob er sich irgendwie verändert hatte.
»Das war aber alles nur in meinem Kopf, oder?«, fragte er vorsichtshalber. »Ich habe mich nicht äußerlich verwandelt …«
»Sehr klug«, lobte Collonta. »Wie gesagt, die geistige Nähe, die zwischen dir und Bonni bestand, hatte nichts mit Mottenkräften zu tun, und es fand keine Illusion statt. Was du gefühlt hast, war ganz und gar echt - weder dein Verstand noch dein Körper wurde getäuscht.«
Nun trat Collonta neben Zhang und legte ihr die Hände auf die Schultern. Das chinesische Mädchen hatte sich gereckt und schien ein paar Zentimeter größer als vorher, ob das nun an der stolzen Haltung lag oder der Mottengabe.
»Unsere Zhang ist eine wahre Meisterin in der Erschaffung von Illusionen!«, schwärmte Collonta mit einem schalkhaften Blitzen in den Augen. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, stand keine Zhang mehr neben ihm, sondern ein zweiter Collonta. Es war ein perfekter Doppelgänger - sogar das leicht zerknitterte Taschentuch in seiner Westentasche glich dem Original.
»Oh!«, lachte der echte Collonta, während sich der zweite Collonta zu Tigwid drehte und mit derselben Stimme fortfuhr: »Das hier ist genau das Gegenteil von dem Haarexperiment. Du wirst nämlich gerade hinters Licht geführt, weil ich
dir per Mottenkraft einrede, dass du Erasmus doppelt siehst. Aber in Wirklichkeit stehe natürlich bloß ich vor dir, nur siehst und hörst du mich nicht so, wie ich bin.« Der Collonta-Doppelgänger wedelte mit den Händen und vollführte einen Hüftschwung, der für das Alter seiner Hüften höchst verdächtig wirkte, und mit einem Dreh schmolz die Erscheinung fort, und Zhang senkte die Hände.
Tigwid musste anerkennend nicken. »Verblüffend. Bloß deine Wortwahl verrät dich. Und die Körperhaltung … Hast du eigentlich schon mal daran gedacht, dich als Papst auszugeben und dir die hübschen Schätze im Vatikan genauer anzugucken?«
»Ständig«, gab Zhang lässig zurück. Aber an dem Funkeln in ihren Augen meinte Tigwid zu erkennen, dass diese Antwort nicht völlig scherzhaft gemeint war.
Collonta klopfte ihr noch einmal auf die Schulter und bedachte Tigwid mit einem nachdenklichen Lächeln. »Ich freue mich, dass du zu uns gefunden hast. Wir haben uns viel zu erzählen.«
Apolonia wurde von Nevera in ein Zimmer geführt, wo sie sich ausruhen, waschen und mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass ihr Leben sich von Grund auf ändern würde. Sie durchquerten lange Gänge und eine kleine Halle mit einem Wintergarten, bis Nevera vor einer Flügeltür haltmachte und Apolonia über den Arm strich.
»Bedeutet das auch, dass ich nie wieder diese sinnlosen Erdkunde- und Geografiestunden bei Herrn Klöppel habe?«, fragte Apolonia plötzlich, der der Gedanke an ihren vergreisten Hauslehrer wahllos zugeflattert war, wie alles, seit sie Morbus und die Dichter verlassen hatte.
»Ich denke, dass deine Ausbildung nach wie vor eine wichtige Rolle spielen sollte«, erwiderte Nevera sanft. »Allerdings
wird es andere Schwerpunkte geben. Es ist gut, wenn du weiterhin bei Herrn Klöppel bleibst, alles soll nach außen hin so bleiben, wie es war. Aber wir werden die Unterrichtszeit reduzieren müssen. Dein neuer Lehrer wird Jonathan sein.«
Apolonia nickte abwesend. Erst als sie schon eine Hand auf die Türklinke gelegt und Nevera sich zum Gehen gewandt hatte, fiel ihr noch eine Frage ein: »Was wird er mir beibringen? Blutbücher zu schreiben? Oder den TBK aufzuspüren?«
Wieder lächelte Nevera, offenbar erfreut über Apolonias Interesse. »Er wird dir alles beibringen, was wichtig ist. Mehr dazu beim Abendessen.«
Nevera wies auf die Tür und Apolonia trat ein.
Das Zimmer war von mehreren Lampen erhellt, die gedämpftes
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