Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
falsch verstehst. Collonta sagt dir alles, wenn er wiederkommt. Er ist so klug, weißt du. Er ist ein Genie.« Zhangs Augen begannen zu leuchten, während sie die Karten mischte. »Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, war ich ein Bankdirektor. Erasmus ist auf der Straße stehen geblieben, hat mich angeguckt und gesagt: ›Was für ein außergewöhnliches Talent! Eine fabelhafte Illusion, wie ich sie noch nie gesehen habe. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?‹ Stell dir vor, er hat mich erkannt, er hat meine Illusion erkannt! Dabei hatte mein Bankdirektor einen maßgeschneiderten Anzug plus eine frisch polierte Glatze mit Speckfalten im Nacken, echte Detailarbeit. Später hat Erasmus mir gesagt, er hätte die Magie um mich herum leuchten gesehen. Stell dir vor, jetzt versucht er, mir beizubringen, wie ich auch Tiere schaffe. Und danach leblose Gegenstände! - Oh, hallo Emil!«
Im Zimmer war der blonde Junge aufgetaucht, den Tigwid bei seinem ersten Erwachen gesehen hatte. Er schenkte ihnen ein Lächeln, lief rot an und machte mit einem Haufen Bretter und Nägel kehrt, um nebenan ein eingebrochenes Fenster zu schließen.
»Was ist seine Gabe?«, raunte Tigwid, sobald Emil aus dem Zimmer war.
»Ich habe keine Ahnung … das weiß nur Erasmus genau. Manche hier glauben, Emil kann Gedanken lesen.«
Tigwid überlegte rasch, ob er etwas Unfreundliches oder Anstößiges gedacht hatte, als der Junge im Raum gewesen war. Es war nachvollziehbar, wenn sich andere in Emils Gegenwart unbehaglich fühlten - war er vielleicht deshalb so scheu?
»Erasmus sammelt gerne Leute mit außergewöhnlichen
Talenten um sich«, fuhr Zhang etwas leiser fort. »Die meisten vom TBK sind natürlich Geisterherren und -herrinnen. Ihre Kräfte sind für unseren Kampf am wichtigsten. Aber deswegen verachtet Erasmus nicht die anderen Talente, im Gegenteil. Wie er sich um Emil kümmert, ist der beste Beweis. Und jeder weiß, wie hoch er Bonni und ihre Visionen schätzt. Oder Rupert Fuchspfennig -«
»- du meinst den Mann mit den braunen Haaren und den …?«
Zhang zog angestrengt die Brauen zusammen und verwandelte ihr Gesicht in das eines vierzigjährigen Mannes mit dünnem Haar, tiefen Furchen und mausartigen Augen. »Ja, der hier, Fuchspfennig, unser Gelehrter. Er ist zwar ein Geisterherr, aber auch ein Traumwandler, das heißt, er kann seinen Körper verlassen und als Geist wandeln … ich versuch nicht, dir das zu erklären, das macht Collonta. Jedenfalls ist Fuchspfennig immer bei Collonta. Sie besprechen Philosophie und Parapsychologie und so was. Ich glaube, die beiden sind schon seit Jaaahren befreundet. Nun, und ich bin eine Illusionistin und Collontas beste Schülerin. Die Mitglieder, die keine Geisterherren sind - Emil, Bonni, Fuchspfennig und ich -, wir stehen Collonta eigentlich am nächsten.«
»Was ist mit Loo?«, fragte Tigwid und nahm die Karten in die Hand, die Zhang ihm austeilte.
»Natürlich mag Collonta Loo auch gerne, wer mag sie nicht? Aber sie ist eben eine Geisterherrin.«
Während sie eine Spezialversion von Poker spielten, die Tigwid sich ausgedacht hatte, erzählte Zhang ihm von den anderen Mitgliedern des TBK. Laus zum Beispiel hatte Tigwid erst einmal flüchtig gesehen, als sie vorbeigekommen war, um ihm gute Besserung zu wünschen. Laus war eine hagere ältere Frau mit kurzem weißem Haar und einem Faible für Schals, die sie in großen Mengen um ihre Schultern, ihre
Hüfte und ihren mageren Hals geschlungen trug. Laut Zhang gab es drei Sachen, die sie interessierten: ihre Schals, ihre Mottengabe und ihre Katzen.
»Das ist auch der Grund, warum Laus nicht hier wohnt«, erklärte sie. »Sie hat im Norden der Stadt eine Einzimmerwohnung mit zwölf Katzen und ihrem Strickzeug. Wenn ich sie nicht kennen würde, würde ich denken, dass sie verrückt ist. Na ja, ein bisschen verrückt ist sie wahrscheinlich. Aber Erasmus hält unheimlich viel von ihr. Sie strickt auch wirklich ganz beeindruckende Schals.«
Was Zhang über manche andere Mitglieder berichtete, war weniger amüsant. So wie die Geschichte von dem dunklen Mann, den Tigwid ein paarmal hatte vorbeilaufen sehen und den die anderen Kairo nannten. Er war in einem fremden Land mit fremden Bräuchen zur Welt gekommen, doch Motten wurden auch dort nicht akzeptiert, im Gegenteil - als Kairos Eltern die Gabe ihres Sohnes entdeckten, fürchteten sie, die übrigen Kinder könnten sich bei ihm anstecken wie mit einer gefährlichen Krankheit, und schickten
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