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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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befinden.« Collonta wies mit seinem Stock in die Schwärze. Dem Widerhall seiner Stimme nach zu urteilen, hielten sie sich in keinem besonders großen oder kleinen Raum auf. »Leider kann ich es selbst nicht sagen. Ich vermute allerdings, dass das hier ein Ort jenseits von Zeit und Raum ist. Dein Verstand sagt dir womöglich, dass das, was deine Sinne erfahren, unmöglich ist - dass du die absolute Abwesenheit von Materie nicht erleben kannst, weil du selbst Materie bist. Aber die Tatsache, dass wir beide hier sind und uns unterhalten, beweist, dass
dieser Ort existiert, weil wir existieren. Oder aber es ist wirklich unmöglich, was bedeuten würde, dass auch wir beide nicht existieren.« Collonta seufzte friedlich. »Die ewige Frage der Menschheit: Sind wir alle nur Träumer und die Welt nichts als der Traum jedes Einzelnen?«
    »Ich versteh das nicht«, sagte Tigwid mit rauer Stimme. »Wie - aber wo sind wir?«
    »Unsere Mottengaben sind ein hauchdünner Faden, dem wir vorsichtig folgen können, und dann gelangen wir hierher: an den Anfang und das Ende von allem. Natürlich kann auch ich nur auf das beschränkte Denkvermögen zurückgreifen, das das menschliche Hirn uns zur Verfügung stellt, doch wenn ich den logischen Schritten des Verstandes folge, dann müsste der Geburtsort der Welt, ja selbst das Herz des Universums, ein Ort sein wie dieser. Vielleicht ist es sogar ein und derselbe. Hier, wo die Existenz selbst relativ ist, ist alles möglich. Du hast gefragt, wo wir sind. Nun, das liegt in deiner Hand.«
    »Soll das heißen … das hier ist eine Transportmaschine ?«
    »Maschine würde ich es nicht nennen, denn eine Maschine ist von Menschen gebaut, um die Natur zu imitieren oder auszunutzen. Ich bezweifle, dass der menschliche Kopf erfinden kann, was der Ursprung des Lebens selbst ist. Ein Kind gebärt nicht seine Mutter.« Collonta lächelte. »Denk dir einen Ort aus.«
    »Einen Ort?«
    »Irgendeinen. Na los!«
    »Gut … ich habe mir einen überlegt.«
    Collonta legte gespannt beide Hände auf den Gehstock. »Stell ihn dir so detailliert wie möglich vor.«
    Tigwid versuchte es, so gut er konnte. Plötzlich lief ein Vibrieren durch seinen Körper, als würde die Schwerkraft einen Husten bekommen. Das Herz schien ihm buchstäblich in die Hose zu rutschen und für einen kurzen Augenblick schwebten
seine Hände leicht wie Federn vor ihm. Dann erschien flimmernd und flackernd die runde grüne Tür neben ihm, so wie auf der Wand im Badezimmer.
    »Ah!«, machte Collonta wie jemand, der einen Groschen auf der Straße findet. »Das ging ja ganz flott. Nun - wie immer nach dir, Tigwid.« Er klopfte mit dem Gehstock gegen den Grünen Ring und die Tür flog auf. Tigwid trat aus der Dunkelheit in ein schwach beleuchtetes Zimmer mit kahlen Wänden und einem massiven Schreibtisch, über dem ein Kruzifix hing. An dem Schreibtisch saß eine ältere Nonne mit einer spitzen Nase und Pausbacken, die etwas schrieb. Erst als Collonta seinen Gehstock auf den Boden setzte, blickte sie auf. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bekam sie vor Schreck einen halben Herzinfarkt.
    »Nanu, wo sind wir denn hier gelandet?«, erkundigte Collonta sich freundlich und sah sich im Zimmer um. Tigwid konnte nur die Nonne anstarren - die Erzieherin des Waisenhauses, mit der ihn so manche Erinnerung verband. Und so manche Tracht Prügel.
    »Guten Abend … Fettwanst«, sagte Tigwid. In vielen Träumen hatte er sich ausgemalt, wie süß jede Beleidigung Schwester Mathildes schmecken würde. Aber das Fettwanst war noch viel köstlicher, als er gedacht hatte.
    Schwester Mathilde starrte ihn an wie eine paralysierte Wachtel.
    »Wohin hast du uns geführt, Tigwid?« Noch immer blickte Collonta interessiert umher.
    »Das Zimmer einer alten Bekannten. Erinnern Sie sich an mich, Schwester? Sie hatten recht, als Sie sagten, der Teufel würde mich eines Tages holen. Hier bin ich mit ihm - um Sie abzuholen, Sie buckelige Kröte!«
    Collonta stimmte ein väterliches Lachen an, als die Schwester einen Schreckensschrei ausstieß. »Tigwid … nun ist aber
gut. Keine persönlichen Rachefeldzüge mit dem Grünen Ring.« An die Nonne gewandt, fuhr er fort: »Meine Teuerste, adieu.« Dann klopfte er mit seinem Gehstock in die Luft, wo augenblicklich der Grüne Ring erschien.
    »Das nächste Mal, Schwester! Nächstes Mal kommen Sie mit!« Tigwid schaffte es sogar noch, eine unflätige Geste zu machen, ehe Collonta ihn in die Dunkelheit gezogen hatte und das

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