Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Zimmer der Nonne verschwand wie Wasser in einem Abfluss. Tigwid war von der Begegnung so erquickt, dass er kaum mehr einen Gedanken daran verschwendete, wieso er keinen Boden unter den Füßen spürte. »Das war unglaublich! Mit dem Grünen Ring kann man wirklich überall hin? Und ich hab immer ein blödes Brecheisen benutzt!« Er musste lachen. »Entschuldigung, dass Sie das eben mitansehen mussten. Aber glauben Sie mir, der alten Vettel tut es nur gut, einen Vorgeschmack von dem zu bekommen, was sie nach dem Tod erwartet.«
Collonta schmunzelte. »Nun … ich denke, hin und wieder darf man sich auch ein Späßchen mit den gewöhnlichen Leuten erlauben.«
»Kann man auch an Orte, die man noch nie gesehen hat?«, fragte Tigwid begierig weiter, ohne recht hingehört zu haben.
»Nein, das ist schwierig … Aber lass uns an einem anderen Ort darüber sprechen, wo es gemütlicher ist.« Wieder erschien die Tür, und Tigwid und Collonta betraten diesmal einen runden Raum, der von meterhohen Bücherregalen umschlossen wurde - die Regale reichten so weit empor, dass sie dem Licht der Petroleumlampen entschwanden und sich in ferner Dunkelheit verloren. Eine bewegliche Leiter war durch Schienen an den Regalen befestigt und führte ebenfalls in die Finsternis hoch oben, die aussah wie der Nachthimmel vom Grund eines Brunnens aus.
Ein halbkreisförmiger Eichentisch stand in der Mitte des Raumes, über und über beladen mit Schriftrollen, Kästchen, Schatullen und Gerätschaften wie einem silbernen Kompass, einem kleinen, von selbst rotierenden Globus, einer goldenen Sanduhr, einer tickenden Kugel, einem bronzenen Auge, das im Drei-Sekunden-Takt auf- und zuklappte, und einer schwarzen, fest verschlossenen Muschel. Tigwid war so von den geheimnisvollen Gegenständen fasziniert, dass ihm erst nach einer Weile auffiel, dass das Zimmer überhaupt keine Tür hatte - auch der Grüne Ring war längst verschwunden. Immer mehr kam er sich vor wie auf dem Grund eines Brunnens. Zugegeben, eines sehr schmucken Brunnens, denn der Boden war mit feinen Teppichen ausgelegt und Collonta bot Tigwid einen gemütlichen Sessel an.
Als der alte Geisterherr sich auf einem Sessel auf der anderen Seite des Tisches niedergelassen hatte, faltete er die Hände vor dem rundlichen Bauch und seufzte zufrieden. »Dies ist mein Arbeitszimmer. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dir nicht den direkten Weg hierher zeigen kann; niemand kennt ihn außer mir. Solltest du oder ein anderes TBK-Mitglied nämlich den Dichtern in die Hände fallen - ich bete, dass es nie dazu kommen wird -, würden sie den Weg zu diesem geheimen Zimmer aus euch herausschreiben. Kein Wissen, und wenn man es noch so gut vor ihnen zu verschließen versucht, ist vor den Dichtern sicher. Selbst wenn es einer begabten Motte gelingt, ihre Erinnerungen nicht ans Papier zu verlieren, so kann sie doch nicht verhindern, dass die Dichter in ihrem Wissensschatz herumwühlen und alles in Erfahrung bringen, was sie wissen wollen.«
Eine Weile beobachtete Tigwid schweigend das träge blinzelnde Bronzeauge. Irgendwo fernab dieser kleinen Wunderhöhle, in der realen Welt, wühlten die Dichter vielleicht gerade in Apolonias Wissensschatz.
»Bitte, erklären Sie mir alles. Wer sind die Dichter und wieso stehlen sie den Menschen ihre Erinnerungen? Und was macht der TBK? Was sind unsere Gaben, können wir dasselbe wie die Dichter? Was sind denn nun endlich Geisterherren?«
»Du stellst diese Fragen zu Recht, Tigwid, und es tut mir leid, dass ich sie nicht eher beantworten konnte. Doch es war viel los in den vergangenen Tagen - hauptsächlich wegen der Dichter. Und wegen eines Mädchens, das du kennst. Ihr Name ist Apolonia Spiegelgold.«
Tigwid spürte einen Kloß im Hals. Weil ihn plötzlich hundert Fragen auf einmal bestürmten, kam ihm keine einzige über die Lippen.
»Fangen wir an: Wer sind die Dichter, und wieso tun sie, was sie tun? Nun. Die Dichter sind eine Gruppe von Motten mit besonderen Fähigkeiten. Im Grunde sind ihre Gaben denen der Geisterherren nicht unähnlich - sie sind sogar fast identisch. Aber das wissen die Dichter natürlich nicht und sie würden es auch nicht glauben wollen. In ihren Augen ist ihre Gabe einzigartig. Dabei ist das Können, das sie entwickelt haben, nichts weiter als eine Verkehrung der Ursprungskraft. Ich werde versuchen, dir zu erklären, was genau diese Kraft ist, doch vorher ein paar Worte zu den Motiven der Dichter. Wieso stehlen sie Erinnerungen? Die
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