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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ihn zu einem Onkel in die Lehre. Der Onkel war ein frommer Mann, der sein Leben dem Verkauf religiöser Artefakte, ausgiebigen Gebeten und langem Fasten verschrieben hatte und seinen Geiz gerne Genügsamkeit und seine Lieblosigkeit Disziplin nannte. Kairo ertrug viele Jahre die harte Arbeit, die harten Worte und die harten Schläge, mit denen sein Onkel ihn in etwas Besseres zu biegen gedachte. Doch ein Mensch ist kein Eisenklumpen. Er besteht zu neunzig Prozent aus Wasser und das lässt sich in keine Form schlagen. Mit siebzehn war Kairo noch immer so verschlossen, finster und begabt wie einst - die Erziehung seines Onkels hatte diese natürlichen Züge nur noch stärker hervortreten lassen. Er war ein Geisterherr. Ob er wollte oder nicht, er besaß Kräfte, die zerstörerisch und
gefährlich und - verführerisch - waren … Nachts begann er, sich darin zu üben, das Dunkle in ihm zu beherrschen, und errichtete Stück für Stück das mächtige Gebilde, dessen Bauplan er seit seiner Geburt in sich trug. Er machte rasche Fortschritte, bis sein Onkel ihn eines Tages im Morgengrauen beobachtete. Überzeugt, dass Kairo mit dem Teufel persönlich im Bunde sei, prügelte er auf ihn ein und sperrte ihn anschließend in den Keller, wo er für seine Sünden büßen sollte. Sobald Kairo sich von den Schlägen erholt hatte, brach er das Schloss auf - ein Leichtes für einen Geisterherrn -, um das Haus seines Onkels und seine Kindheit und alles hinter sich zu lassen, was ihm nur Qual und Trauer bereitet hatte. Als sein Onkel ihn aufhalten wollte, kam es zum Gerangel. Kairo streckte instinktiv die Hand aus. Ehe er es verhindern konnte, sammelten sich die Kräfte … er spürte das Zucken in seinen Fingerkuppen, spürte, wie sie durch seine Glieder schossen wie ein kalter Stromschlag und seinen Onkel trafen.
    Der Mann schrie auf und fiel zurück. Seine Arme und Beine drehten sich wild in der Luft. Die Gelenke krachten - knack knack! - knack knack! - und die Schreie steigerten sich zu einem unmenschlichen Laut des Schmerzes.
    Kairo saß ganz reglos auf dem Boden, keuchend, und starrte seinen Onkel an, der sich nicht mehr bewegte. Ein Zittern lief noch durch seine Finger, dann hatten ihn sein Leben und die Geister verlassen.
    Kairo floh noch in derselben Stunde, doch er kam nicht weit. In den verwinkelten Gassen der Stadt, in der er aufgewachsen war, schnappte ihn die Polizei, und er wurde ohne viel Federlesen als Mörder eingesperrt. In jenem Land wurde das Gefängnis mehr gefürchtet als der Strick, denn dort zu landen, tief unter der Erde mit tonnenschweren Gittern und Gestein über dem Kopf, war wie ein lebendiges Begräbnis.
    Zwei Jahre - oder waren es drei? - starb Kairo einen langsamen
Tod in den Schatten der Einsamkeit. Wie alle Gefangenen litt er an Kälte, Hunger, mangelnder Luft und Bewegung; vor allem aber litt er an dem Wahnsinn, der sich mit all diesem Elend an seine Opfer heranschleicht, ein hinterlistiger Gefährte in einem langen Trauerzug. Kairo sah ein, dass seine Eltern und sogar sein Onkel recht gehabt hatten: Seine Begabung war böses Zauberwerk, und er hatte sie mit seinem Ehrgeiz und seiner Neugier genährt, bis er ihr schließlich die Kontrolle überlassen und sie ihre schwarzen Schwingen nicht nur über ihn - sondern auch seinen Onkel ausgebreitet hatte. Er wusste, dass er dafür bezahlen musste.
    Aber was nützt der Gedanke an Gerechtigkeit gegen Wahnsinn … Nach drei qualvollen Jahren hielt Kairo das Verlies nicht mehr aus. Wenn er jetzt nicht floh und rannte, egal wohin, sei es auch direkt in die Hölle hinab, dann würde er verrückt werden, und kein Licht führt aus dem grellen Funkenspiel des Wahnsinns zurück. Dann wollte er eben nicht büßen - dann wollte er sich eben dem Bösen in ihm ergeben, wenn er dadurch die Sonne, den Mond und Bäume wiedersehen könnte!
    Zum tausendsten Mal hatte Kairo den Entschluss zur Flucht gefasst, doch seine Gedanken zerrieselten schon nach Sekunden wie Sandgebilde, sodass er immer wieder vergaß, was er gerade eben noch überlegt hatte. Er musste den Moment nutzen. Die Chance ergreifen. Jetzt!
    Für einen Geisterherrn gibt es keine Tür und kein Schloss, das ihn aufhalten kann. Was Kairo drei Jahre von der Flucht abgehalten hatte, war allein das Wissen, dass er sein Leiden verdiente. Aber nun, was zählten da schon Wissen und Denken - das alles zerschmolz unter der Erinnerung an glühende goldene Sonnenaufgänge. Kairo tat, was er seit dem Mord nicht mehr getan

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