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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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hatte, und brach die Kerkertür auf, indem er die Fingerspitzen auf das Eisen legte. In gleichmäßigen, ruhigen
Schritten durchquerte er den Flur und stieg die Spiraltreppen empor, auf direktem Weg in seine Freiheit. Zwei Wärter kamen ihm entgegengerannt und Kairo ließ seine dunkle Seite auf sie los. Er sah nicht hin und sah nicht weg, als die Männer starben, auch wenn ihr Tod ihn in noch tiefere Verzweiflung stürzte. Aber seine Gabe war ein tollwütiger Hund: Er konnte ihn lediglich von der Leine lassen, doch ihm keine Befehle erteilen.
    So setzte er seinen Weg aus dem Gefängnis fort und seine Freiheit kostete fünf Männer das Leben. Als er auf die vom Sternenlicht geglättete Straße trat, den Rücken streckte, die Nacht einatmete, trugen seine Füße ihn weiter auf ein Ziel zu, von dem er nur wusste, dass es in der Ferne lag - so fern, dass es vermutlich ein Traum war und nie zu erreichen.
    Kairo ging. Er ging und räumte alles aus seinem Weg, was ihn am Voranschreiten hinderte. Tage und Nächte ging er einfach, beobachtete die Lichter des Himmels und das Winken der silbrigen Blätter und die Vögel, die ihr Reich dazwischen hatten. Die Welt war wunderschön. Dann kam er zu einem Hafen und sah das Meer. Wenn er im Land blieb, würde die Polizei ihn weiterverfolgen, und er würde mehr Männer töten müssen. Kurzerhand schlich er sich auf den nächsten Dampfer, der die Küste verließ, und sah zu, wie seine Heimat im grauen Qualm verblasste. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Fast war ihm, als könne er sich selbst verblassen sehen.
    Das Schiff trug ihn an eine neue Küste, zu einem fremden Land. Was in seiner Heimat sandig, gelb, heiß und trocken war, war hier nebelblau, matschig, kalt und feucht.
    Kairo setzte seinen Weg fort, nicht auf der Flucht vor der Polizei, sondern vor seinem eigenen Schatten. Er betrat und verließ große Städte, schlief auf einsamen Straßen und in verwitterten Heiden, durchwanderte ein kleines Gebirge und kam
in eine Stadt. Die Reise durch die Natur hatte ihn geschwächt, in einer Stadt aber gibt es immer Abfall, in dem man Essen finden kann, oder leichte Opfer. Nach einigen Tagen raubte Kairo einen Mann aus. Gerade hatte er sich mit dem Geld davongemacht und lief zählend durch die dunklen Gässchen, da trat Erasmus Collonta in sein verlorenes, junges Leben.
    Der ältere Herr stand am anderen Ende des Gässchens, eine Hand auf den Gehstock gelegt, die andere auf dem Rücken, und musterte Kairo durch die ausgeblichenen Schatten der Häuser. »Guten Tag. Ich … sehe dich. - Nein!«
    Gerade rechtzeitig hob Collonta die Hand und wehrte Kairos Angriff ab. Kairo starrte ihn an. Das hatte er noch nie erlebt. Offenbar konnte der Alte das, wovon Kairo längst nicht mehr zu träumen wagte: Er konnte das tollwütige Biest zähmen.
    Collonta sprach besänftigend auf ihn ein. Sie verständigten sich allmählich und Collonta brachte ihm die ersten Worte in seiner Sprache bei. So erfuhr Kairo, dass er nicht die einzige Motte auf der Welt war, dass man die Gaben beherrschen konnte und der TBK sich im weitesten Sinne um genau das kümmerte: die Kontrolle übersinnlicher Kräfte …
     
    Tigwid dachte über die Mitglieder des TBK und vor allem die Geschichte von Kairo nach, als Zhang gegangen war, um draußen frische Luft zu schnappen. Obwohl sechs der zehn Anhänger Collontas in der Wohnung lebten, gingen sie ein und aus, als wären sie in den Schatten der Stadt ebenso zu Hause wie in ihren Zimmern.
    »Wir sind eben Motten«, hatte Zhang mit einem Grinsen gesagt. »Wir müssen nachts ausflattern und uns unter die Leute mischen. Wer sich abkapselt, findet irgendwann gar keine Verbindung mehr zu den gewöhnlichen Menschen.«
    Und Collonta? War er auch in der Stadt unterwegs, um eine
Weile zu vergessen, dass er eine Motte und ein gesuchter Terrorist war?
    »Blödsinn«, erwiderte Zhang, während sie sich die dichten, langen Haare zu einem Zopf flocht. »Erasmus widmet sich seinen Studien. Er hat soo viel zu tun, der hat keine Zeit zum Rumspazieren.«
    Nach einem Augenblick schlüpfte Tigwid aus dem Bett. Er hatte nicht mehr die Ruhe, dazuliegen und den Stimmen seiner letzten Erinnerungen zu lauschen. Mit tapsigen Schritten durchquerte er das Zimmer. Draußen war es Abend geworden; durch das wellige Fensterglas konnte er den Himmel hinter den Hausdächern sehen, wässrig blau und leuchtend wie ein abgetragenes Tuch mit einem Bühnenlicht dahinter. Seufzend blieb er am Fenster stehen. Ihm war,

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