Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
als dringe die Kühle des Abends durch das Glas. Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder rauszukommen. Motten müssen nachts ausflattern und sich unter die Leute mischen … Nachdenklich befühlte er den Verband an seiner Schulter. Irgendwo da draußen, in dem Irrgarten der Backsteinhäuser, Kirchen, Stadtvillen und Fabriken, steckten Apolonia und Vampa. Und er hier drinnen, so unauffindbar, dass er genauso gut am Nordpol sein könnte.
»Du kannst schon aufstehen«, stellte eine Stimme dicht hinter ihm fest. Tigwid fuhr herum. Collonta stand direkt vor seiner Nase. Er hatte nicht gehört, wie die Zimmertür aufgegangen war, dabei konnten die quietschenden Angeln Tote wecken.
»Wie sind Sie reingekommen?«, fragte Tigwid verblüfft.
Collonta antwortete ihm mit seinem eigentümlichen Lächeln. »Wenn du dich wieder kräftig genug fühlst, dann zieh dich an, und ich zeige es dir.«
Tigwid klaubte sein Hemd und einen großen dunklen Wollpullover zusammen, den Fredo ihm besorgt hatte, und streifte beides vorsichtig über. Während er mit einer Hand versuchte,
sich Socken anzuziehen, und in seine Schuhe schlüpfte, beobachtete Collonta, wie das Licht im Himmel immer schwächer wurde und seine Spiegelung im Fenster deutlicher. Dann stand Tigwid auf.
Collonta drehte sich um. »Fertig? Haare gekämmt, Ohren geputzt und Unterwäsche gebügelt?«
»Nee.«
»Dann lass uns gehen.«
Collonta führte ihn durch die Wohnung. Sie zwängten sich durch den engen Flur, an der großen, fast leer stehenden Küche vorbei und durch zwei lange Zimmer mit einer eingerissenen Wand. Hier und da führten Türen in die Zimmer von Bonni, Loo, Fredo, Kairo, Zhang und Emil, und im Vorbeigehen zählte Tigwid noch so manch weitere Tür, einige verschlossen, andere verrammelt oder zertrümmert. Ein kleiner Raum war voller Rohre, Bretter und Schutt. Dann trat Collonta in ein Badezimmer, dem die Tür und das Waschbecken fehlten, das aber noch mit einem großen, sehr verstaubten Wandspiegel und einer schiefen Badewanne auf drei Löwenpranken aufwarten konnte. Collonta knipste den Lichtschalter an und in der Badewanne schnurrte ein Büschel Glühbirnen auf. Durch die Reflexion der Wanne wurde der ganze Raum in ein unheimliches Licht getaucht.
»Komm, schau hierher«, ermunterte Collonta Tigwid, der sein kränkliches Spiegelbild betrachtet hatte, und wies auf die kahle Wand gegenüber. Ohne sich umzudrehen, musterte Tigwid die Wand im Spiegel. Die hellgrünen Kacheln waren alle abgefallen und gaben den Blick auf eine Ziegelsteinmauer frei. Collonta schien seine Aufmerksamkeit diesen Ziegelsteinen zu widmen. Schließlich drehte Tigwid sich um und - blinzelte überrascht. Plötzlich war eine leuchtend grüne, kreisrunde Tür auf der Mauer erschienen. Wie hatte er die im Spiegel übersehen können?
»Das«, erklärte Collonta feierlich, »ist der Grüne Ring.«
»Das ist aufgemalt.«
Collonta warf Tigwid einen Seitenblick zu. »Gemalte Bilder sind Illusionen, visuelle Tricks. Unseren Augen wird eine Szene, ein Raum oder ein Gegenstand vorgetäuscht, der nicht existiert. Hier wird dir nichts vorgetäuscht, Tigwid.« Mit einem Nicken wies er zum Spiegel. Tigwid sah hinein. Verwirrt drehte er sich wieder zur Wand. Kein Zweifel, da war die Tür. Aber sie hatte keine Spiegelung.
»Hier … wird dir nur etwas verschwiegen!«
»Wie funktioniert das? Ist das alles mit Mottengaben gemacht?«
Collonta schüttelte den Kopf und streckte gleichzeitig die Hand nach dem Türknauf aus. »Wir schaffen das Unbegreifliche nicht mit unseren Gaben. Unsere Gaben gewähren uns lediglich Zutritt zum Unbegreiflichen.« Und plötzlich stand die gemalte Tür offen und in der Wand klaffte ein pechschwarzer Eingang.
Die Gaben
N ach dir«, sagte Collonta vergnügt und wies in die Schwärze, die sich vor ihnen auftat. Verblüfft streckte Tigwid eine Hand aus und tauchte sie in den unbekannten Raum. Eine leichte Kühle kroch ihm über die Haut. Dann trat er durch die Öffnung. Er fühlte weder einen Boden unter den Füßen noch schwebte er. Als er sich zu Collonta umdrehte, sah er gerade noch, wie das Bad hinter ihnen in die Ferne gerissen wurde und in einem kleinen Farbstrudel verschwand. Er schluckte hörbar. Obwohl es keine Lichtquelle mehr gab, konnte er Collonta gut erkennen, so als würde er von innen leuchten, und auch seine eigenen Hände schienen plötzlich merkwürdig hell. Gänsehaut überzog seinen Körper.
»Nun. Die naheliegende Frage ist, wo wir uns
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