Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
in der anderen Hand, schien die gemalte Tür niemanden besonders zu interessieren.
»Ich habe dahinter einen Durchgang vermutet«, erklärte Apolonia und ließ das Rohr fallen. Inzwischen war sie eine Expertin darin, Polizisten anzulügen.
Tigwid wurde bald klar, dass sie sich nur an einem Ort befinden konnten: dem berüchtigten Untergrund, den er zum ersten Mal mit Vampa bei ihrer Flucht aus Eck Jargo betreten hatte. Mart führte sie durch endlos lange Tunnel, durch die sie geduckt laufen mussten und die von schummrigen Lampen oder Fackeln oder manchmal gar nicht beleuchtet waren. Dann stiegen sie zwei Feuertreppen hinauf, liefen durch einen feuchten Kanal und erreichten steinerne Arkaden, die bestimmt zehn Meter hoch waren und an versunkene Paläste
erinnerten. Tigwid stellte sich vor, wie die Wächter dieser machtvollen Welt ihr Geheimnis schützten. Es musste mehr Menschen das Leben kosten als die Geheimhaltung von Eck Jargo - schließlich schien dieser Ort nicht so, als könnte sich ein wohlhabender, abenteuerlustiger Familienvater mit gewissen Kontakten hier einen kurzweiligen Besuch erkaufen wie einst in Dottis Reich. Der Untergrund war keine vorgegaukelte Halunkenwelt, kein Gruselkabinett mit Faustkämpfen und Tänzerinnen - wer hierherkam, suchte keine Unterhaltung, sondern ein wirkliches Versteck, ein Grab für Lebende.
Hin und wieder machte Tigwid Gestalten im Halbdunkel aus, doch sie zogen sich zurück, sobald sie sie bemerkten. Hier legte niemand Wert auf Gesellschaft. Schließlich erreichten sie ein niedriges Zimmerchen mit Erdwänden, das nur durch ein Kanalloch und eine Leiter zu erreichen war. Bonni und Emil zündeten mehrere Öllampen an, sodass der Raum sich erhellte. Es gab mehrere Schlaflager, eine offene Feuerstelle mit einem Topf darüber und sogar einen Wasserhahn. Notfalls konnten sie sich hier für unbestimmte Zeit verborgen halten, doch Tigwid hoffte inständig, dass es nicht so weit kam.
Auf eine Wand war der Grüne Ring gemalt, so wie im Badezimmer der Wohnung. Nachdem Tigwid Bonni, Emil und Mart beim Auspacken ihrer Habseligkeiten geholfen hatte, stellte er sich davor und musterte die runde Tür. »Wie öffnet man sie eigentlich?«
»Du musst dir vorstellen, was dahinter ist«, antwortete Emil scheu.
»Du weißt doch, wie es mit Wundern ist«, sagte Bonni und lächelte das erste Mal, seit Fredo blutend in die Wohnung gestürmt war. »Man muss an sie glauben, damit sie wahr werden. Aber benutze den Grünen Ring nicht jetzt. Wir erwarten die anderen.«
Mart hatte mehrere Konservendosen mitgebracht und sie machten sich Linseneintopf. Als sie fertig gegessen hatten, redeten sie über den Vorfall, sprachen ihre Befürchtungen aus und machten sich gegenseitig Hoffnung. So verstrich die Zeit. Tigwid befühlte nachdenklich seine Schusswunde - das war inzwischen eine Angewohnheit geworden - und freute sich, wie gut sie schon verheilt war. Dann legten sie sich zum Schlafen, damit die Zeit schneller verflog. Als er den anderen den Rücken gekehrt hatte, holte er den Zeitungsartikel mit Apolonias Bekenntnis hervor, den er seitdem gefaltet in der Innentasche seines Jacketts trug. Mit Zhangs Hilfe hatte er ihn Wort für Wort entziffert, nachdem der Graf ihn ihm vorgelesen hatte; nun konnte er ihn fast auswendig. Er betrachtete Apolonias Gesicht und versuchte, sich vorzustellen, dass sie sich tatsächlich den grausamen Dichtern angeschlossen hatte. Sie musste irgendwie manipuliert worden sein. Schließlich wusste sie doch, dass nicht der Treue Bund, sondern die Dichter Kinder entführten, um ihnen die Erinnerungen zu stehlen! Aus freien Stücken würde sie niemals das Gegenteil sagen … Tigwid atmete tief aus. Er wollte gar nicht daran denken, mithilfe welcher Methoden man Apolonia in ein Instrument von Morbus’ Machenschaften verwandelt hatte.
Er erwachte durch Geräusche und steckte sich den Zeitungsausschnitt eilig ins Jackett. Auch Emil, Bonni und Mart richteten sich auf: Collonta und die anderen traten soeben durch den Grünen Ring. In ihrer Mitte trugen sie die bewusstlose Loo. Tigwid, Mart, Emil und Bonni machten Platz, damit sie Loo auf die Decken legen konnten. Obwohl sie nichts wahrzunehmen schien, flatterten ihre Lider, und das Weiß der Augäpfel war sichtbar. Bonni hatte bereits ein feuchtes Tuch geholt und gab es Fredo, der damit Loos Gesicht abtupfte.
Viel mehr konnten sie nicht tun und der Schmerz über die Hilflosigkeit stand Fredo deutlich in die Augen
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