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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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war, gedacht hat. Es bedarf des geistigen Einverständnisses der Person, die du aufsuchen möchtest: Nur wenn ihre Gedanken bei dir waren, wirst du zu ihr finden können.«
    Tigwid biss sich auf die Unterlippe. »Einen Versuch ist es wert.«
    »Dann komme ich mit«, sagte Fredo plötzlich. Seine Augen waren so hasserfüllt, dass Tigwid unwillkürlich zurückwich. »Wenn die Möglichkeit besteht, die Person zu stellen, die Loo das angetan hat, dann…« Er konnte nicht weitersprechen und ballte die Fäuste.
    »Ja…«, murmelte Tigwid. »Ich, ähm, sollte es aber vielleicht erst allein versuchen. Meint ihr nicht - vielleicht öffnet der Grüne Ring sich nicht, wenn jemand dabei ist, den sie nicht kennt.«
    Collonta erkannte sehr wohl, dass das nur eine Ausrede war, um Apolonia vor Fredos Zorn zu schützen, doch er zuckte lediglich die Schultern. »Wenn es dein Wunsch ist, Tigwid, werde ich es dir zeigen.« Er stützte sich auf seinen Stock und wies auf die gemalte Tür an der Wand.
     
    Trotz ihrer Müdigkeit konnte Apolonia jetzt nicht schlafen - das war unmöglich. Der Tag war viel zu aufwühlend gewesen. Und immer wenn sie versuchte, den Strom ihrer Gedanken zu stoppen, die sich weiter und weiter fortsetzten
wie fallende Dominosteine, kam ihr eine Erinnerung aus Loreleys Gedächtnis zugeflogen. Es waren nur ganz einfache kleine Szenen, die sie vergessen hatte ins Buch zu schreiben: wie Loreley am Vortag durch die Straßen geschlendert und einer Gauklertruppe begegnet war, wie das teure Glas aussah, das sie als Kind einmal hatte fallen lassen, und ein streunender Hund, der sie eines Morgens angekläfft hatte. Die Bilder und Geräusche der Erinnerungen durchzuckten sie, als wären es ihre eigenen, und brachten Apolonia immer wieder durcheinander. Stöhnend fragte sie sich, wie lange dieser verwirrende Zustand anhalten würde.
    Wenigstens eine gute Sache hatte der heutige Tag gebracht: die Gabe der Terroristin.
    Verblüfft schüttelte Apolonia den Kopf, während sie sich im Schrankspiegel musterte. Ihr offenes Haar geriet durch die Kopfbewegung in Schwung und tanzte durcheinander. Dabei blieb es senkrecht in der Luft schweben. Apolonia hatte Macht über die Schwerkraft.
    Sie beschloss, ihre Haare wieder fallen zu lassen, und sie fielen. Nun stieg sie auf die Zehenspitzen und nahm sich vor, selbst abzuheben. Aber sie fühlte sich nur ein bisschen leichter - was auch daran liegen konnte, dass sie ihr Abendessen noch nicht angerührt hatte. Offenbar war ihre neue Mottengabe nicht mächtig genug, um ihren ganzen Körper schweben zu lassen. Sie erinnerte sich an ihre Mutter und die geheimen Spiele im Salon … damals war die Kraft von mehreren Motten vonnöten gewesen, damit Magdalenas Körper vom Boden hochstieg. Schließlich wog ein Mensch erheblich mehr als ein paar Haare.
    Dennoch war die neue Gabe unglaublich. Apolonia konnte leichte Gegenstände bewegen. Und das war bloß das, was sie schon ausprobiert hatte.
    »Wie funktioniert das nur«, murmelte sie und beobachtete
fasziniert, wie sich ihr Brieföffner auf dem Schreibtisch senkrecht aufstellte. Zum ersten Mal konnte sie nachvollziehen, warum Tigwid den Mottengaben auf den Grund hatte gehen wollen. Bei dem Gedanken an ihn verblasste Apolonias Freude und sie ließ den Brieföffner sinken.
    Immer wieder hatte Tigwid sich in ihren Kopf geschlichen. Dass er zum TBK gehört hatte - und es höchstwahrscheinlich noch tat -, brannte wie Säure. Während sie Gewissensbisse plagten, weil sie ein läppisches Verbrecherloch an die Polizei verraten hatte, war er der wahre Verräter gewesen; er hatte die ganze Zeit geplant, sie zu ihren Mördern zu führen.
    Laute Stimmen des Protests folgten auf diesen Gedanken, doch Apolonia wollte nicht auf sie hören. Man durfte niemandem vertrauen, nicht einmal seinen eigenen Gefühlen. Nur der Verstand war zuverlässig. Der Verstand war das Einzige, das nicht manipuliert werden konnte… jedenfalls nicht ihr Verstand.
    Als Apolonia sich wieder ihrem Spiegelbild zuwandte, entdeckte sie ein grünliches Flimmern hinter sich im Spiegel. Sie fuhr herum - tatsächlich, in der Luft hing ein grünes Flackern, das zu einem runden Etwas heranwuchs. Erschrocken trat sie zwei Schritte zurück und stieß gegen den Schrank. Hatte sie die Erscheinung heraufbeschworen? Wenn sie ihre neue Gabe nicht kontrollieren konnte …
    Und plötzlich erkannte sie die grüne Tür aus der Wohnung des TBK wieder. Automatisch riss sie die Hand hoch und der Brieföffner

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