Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
die anderen in unser Versteck im Untergrund. Und nun pass gut auf, Tigwid, denn du hast das noch nie gemacht.« Collonta trat an die Bücherregale und zog an einem verborgenen Griff. Das Regal schwang auf und offenbarte einen niedrigen Geheimgang. »Dies ist der einzige reale Weg hinein und hinaus. Benutze ihn, doch du darfst dich kein einziges Mal umdrehen. Vergiss das nicht, Tigwid! Wenn du dich umdrehst, wirst du dich an die Tür erinnern, und die Dichter können dir diese Erinnerung stehlen!«
    Tigwid nickte. »Versprochen.«
    »Gut. Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Wir treffen uns in ein paar Stunden wieder.«
    Mart wies die anderen an, ihm durch das Regal zu folgen, während Collonta den Grünen Ring herbeirief.

     
    Keine Worte konnten beschreiben, was Apolonia beim Verfassen ihres ersten Buches empfand. Inzwischen war sie Herr des wilden Meeres geworden und konnte die Erinnerungen aufrufen, nach denen ihr beliebte, als stünde sie in einer Bibliothek voller sortierter Karteikästen. Es waren Tausende Karteikästen. Überquellend vor Bildern, Geräuschen, Gerüchen und vor allem Gefühlen.
    Und was für Gefühle Apolonia erlebte! Innerhalb von Minuten empfand sie die ganze Freude, die ganze Angst, Traurigkeit, Überraschung und das Glück eines Lebens. Hätte ihre Hand nicht unermüdlich geschrieben und all das Erlebte aufs Papier entlassen, wäre sie wirklich am Schwall der Erinnerungen verrückt geworden. Nur als sie die Gabe des Mädchens fand, ein leuchtendes, kleines Etwas, das die Terroristin dicht bei ihrem Namen aufbewahrte, hielt Apolonia im Schreiben inne und verwahrte die Gabe in ihrem eigenen Gedächtnis. Nun wusste sie, wie die Kräfte einer Geisterherrin funktionierten.
    Es kostete sie große Selbstbeherrschung, das Mädchen nicht zu lieben wie sich selbst. Immer wieder musste sie sich daran erinnern, dass sie Apolonia hieß; und als sie tiefer in die Persönlichkeit der Terroristin drang und ihre Zuneigung wuchs, sagte sie sich nach jedem fünften Satz: »Ich hasse Loreley und ich liebe nur mich, Apolonia.« So schaffte sie es, ihr Gewissen zu überwinden, das von dem wortlosen Verständnis zwischen ihr und Loo genarrt wurde und ihr befehlen wollte, die junge Frau zu verschonen. Aber natürlich wusste Apolonia, dass sie jeden lieben würde, wenn sie seine Gefühle und Gedanken kannte - davon durfte sie sich nicht zu falschem Mitleid verleiten lassen.
    Irgendwann fuhr ein stechender Schmerz durch ihr Handgelenk. Erschrocken fuhr sie auf und wandte den Blick von den Augen der Terroristin: Ihre Hand war völlig erschöpft
vom langen Schreiben. Mit zittrigen Fingern durchblätterte sie die beschrifteten Seiten. Es waren mehr als dreißig.
    Morbus stand hinter ihr und berührte sie am Arm. »Wie fühlst du dich?«
    »Ich zittere. Wie lange habe ich geschrieben?«
    Morbus zog seine Taschenuhr hervor. »Fast drei Stunden. Du bist ausgesprochen schnell, Apolonia. Ich bin beeindruckt. Aber lass dir ab jetzt ruhig Zeit. Wir werden das Mädchen noch Wochen hierbehalten können.«
    »Nein, ich schreibe nicht weiter«, sagte Apolonia und schloss das Buch. Dann erhob sie sich und betrachtete die Terroristin, die nahe der Ohnmacht schien und die Augen verdreht hatte. Ein Ausdruck von ängstlicher Besorgnis huschte über Morbus’ Züge.
    »Ich habe gesehen, wo sie lebt. Sie teilt sich eine Wohnung mit weiteren TBK-Mitgliedern und ich kenne jetzt den Weg. Wenn wir sofort losfahren und die Polizei alarmieren, können wir sie alle festnehmen lassen.«
    Ein Lächeln breitete sich auf Morbus’ Gesicht aus. »Du übertriffst meine Erwartungen immer wieder.«
    »Also fahren wir sofort los?«, fragte van Ulir. »Kastor und ich sind mit Automobilen hier - wenn wir die nehmen, sind wir in einer halben Stunde in der Stadt.«
    »Hervorragend«, sagte Morbus. »Apolonia, kennst du den Namen der Straße, in der die Wohnung liegt?«
    Sie blätterte durch das Buch. »Hier. Die Gasse hat keinen Namen, doch es ist die erste Gasse links, wenn man die Luisenstraße hochfährt. Die Wohnung liegt in einem verlassenen Haus am Ende der Straße, im dritten Stock.«
    »Ich rufe bei der Polizei an und gebe die Informationen durch«, bot sich Manthan an und eilte aus dem Raum.
    »Was passiert mit der Gefangenen?«, fragte Apolonia, als Noor und Jacobar sich daranmachten, die junge Frau vom
Stuhl loszubinden. Sie hatte endgültig das Bewusstsein verloren.
    »Wir setzen sie irgendwo aus. Bist du sicher, dass du ihre Gabe ganz

Weitere Kostenlose Bücher