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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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schoss vom Schreibtisch auf die Erscheinung zu. Kurz davor kam ihre notdürftige Waffe schwebend zum Stillstand, um zu erwarten, wer sie überfallen wollte. Einen Herzschlag lang flimmerte die Tür in der Luft wie eine Fata Morgana. Dann wurde der Türknauf gedreht. Langsam öffnete sich die Tür… und ins Zimmer trat ein Junge in zerschlissenen Kleidern.

    Tigwid.
    Das matte Licht des Kamins umzeichnete sein Profil. Er sah älter aus, irgendwie erschöpft und weniger beschwingt als früher. Kurz irrte sein Blick zu dem Brieföffner, dann starrte er wieder Apolonia an. Sekunden der Stille verstrichen, in denen sie einander nur ansehen konnten.
    »Wieso hast du es getan?«, fragte er schließlich leise.
    Apolonia zwang sich, in ihm das zu sehen, was er wirklich war: ein gefährlicher Terrorist. Ihr Feind. Er wollte sie mit seinem plötzlichen Auftauchen verwirren, doch auf ihn fiel sie nicht mehr herein - dass er mit der magischen Tür des TBK erschienen war, bestätigte ihren düsteren Verdacht endgültig!
    »Du …«, brachte sie schwer atmend hervor. »Verschwinde!«
    Sein Gesicht versteinerte sich. »Dann ist es also wahr. Weißt du, dass du Freund und Feind verwechselst?«
    »Das habe ich einmal getan. Jetzt weiß ich, wer mein angeblich so guter Freund wirklich war… nämlich eine Motte, der die Gabe herausgeschrieben werden musste!«
    »Ich bin immer noch eine Motte«, erwiderte Tigwid.
    »Ja, offenbar hat Ferol bei dir einen ganzen Haufen Boshaftigkeit übersehen.« Apolonia beobachtete, wie er vor Zorn die Lippen zusammenpresste und dann scharf die Luft ausstieß. Der Brieföffner zitterte leicht, doch Tigwid schenkte ihm keine Beachtung.
    »Und was war mit Loo? Sie war vollkommen unschuldig! Sie hatte nichts Böses, das du ihr hättest stehlen können. Gott, Apolonia. Wie konntest du das nur tun?«
    Der Raum zwischen ihnen schien zu einer meilenweiten Kluft zu wachsen.
    »Verschwinde«, wiederholte Apolonia kaum hörbar. Tigwid regte sich nicht. Dann kam er näher.
    Augenblicklich zischte der Brieföffner auf ihn zu. Tigwid
rang nach Atem, als die kalte Spitze seine Kehle berührte. Mit der Hand wollte er den Brieföffner wegfegen, doch der blieb wie festgefroren auf der Stelle; nur Apolonia schwankte und stieß mit der Schulter gegen die Schranktür.
    »Ein Schritt und ich werde dich umbringen«, flüsterte sie schwer.
    Sein Blick brannte sich in sie hinein. »Tu’s doch.« Er setzte einen Fuß nach vorne. Ein Zucken ging durch sein Gesicht, als sich der Brieföffner in die Haut bohrte. Plötzlich ballte er die Fäuste und stieß einen verzweifelten Laut aus. »Was ist mit dir los?! Erkennst du mich nicht wieder, bist du blind?! Wir hatten ein gemeinsames Ziel!« Obwohl der Brieföffner sich nicht bewegte, kam er noch ein Stück näher. Er blinzelte und verzog die Augenbrauen. »Du hast mein Vertrauen einmal enttäuscht. Bitte sag mir, dass du es nicht noch mal getan hast. Ich … ich glaube nicht, dass du aus freien Stücken grausame Dinge tust, und wenn du mir nur die kleinste Hoffnung lässt - dann werde ich meinen Glauben an dich nicht verlieren! Dann werde ich alles tun, um dir zu helfen. Ich helfe dir … verstehst du?«
    »Ich brauche deine Hilfe nicht!«, schrie Apolonia, und ihre Stimme zitterte. Der Brieföffner rutschte ab und riss ein Loch in Tigwids Pullover. Keuchend wich er zurück. »Du und ich, wir sind Feinde! Wenn ich dich das nächste Mal sehe, dann werde ich dich umbringen.«
    Tigwid fuhr sich über Hals und Brust und nickte zerstreut, ohne sie mehr ansehen zu können. »Mach dir keine Sorgen. Mich siehst du nie wieder.« Dann wischte er durch die Luft, der Grüne Ring erschien und Tigwid verschwand mit einem einzigen Schritt.
    Apolonia lehnte am Schrank. Sie war mutterseelenallein.
    Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er gesehen, dass nicht nur er, sondern auch sie gegen die Tränen ankämpfte.

Tage dazwischen

    D er Kampf der Gesetzeshüter und -brecher sorgte in den folgenden Wochen für Schlagzeilen, die die Auflage des Stadtspiegels in die Höhe trieben. Atemlos verfolgte die ganze Stadt, wie die Polizei die Jagd auf den Treuen Bund eröffnete. Fast täglich wurden geheime Stützpunkte gefunden und Verdächtige festgenommen; die höchsten Politiker lobten den Erfolg in der Verbrechensbekämpfung, während der Treue Bund den Eifer seiner Gegner mit demselben Enthusiasmus erwiderte. Brände wurden gelegt, sogar in zwei Kirchen und im Justizgebäude; die Verbrecher wurden

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