Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
lächelte.
Nacht der Motten
A ls sie die Stadt erreichten, herrschte reges Leben auf den Straßen. Fröhliche Menschen riefen sich Glückwünsche fürs neue Jahr zu, tranken miteinander und küssten sich und überall hallte das Heulen von Feuerwerk wider. Vampa war so weit zu sich gekommen, dass er Jacobar einsilbige Anweisungen geben konnte, wohin er fahren sollte. Dabei sah er immer wieder Apolonia aus den Augenwinkeln an, auf der Suche nach Mitleid oder zumindest irgendeiner anderen Gefühlsregung. Apolonia war so weit vor ihm zurückgewichen, wie es auf der Rückbank ging, und versuchte, ihn zu ignorieren. Wieso benahm er sich so eigenartig? Wenn Morbus ihm wirklich alles genommen hatte, sollte er eigentlich nicht sagen können, dass er sie liebte. Er sollte gar keine Gefühle haben, und schon gar nicht für sie! Apolonia presste die Augen zu. Sie wusste gar nicht mehr, was sie denken und tun sollte. So oft hatte sie widersprüchliche Dinge gehört und Verrücktheit erlebt, dass sie selbst schon ganz durcheinander war. Ihre Überzeugung von der Gerechtigkeit ihres Kampfes gegen den TBK hatte sie längst verloren, irgendwo im Chaos der Stimmen, die sie auf verschiedene Seiten riefen. Trotzdem würde sie den TBK vernichten. Sie war zu weit gegangen, um nun stehen zu bleiben. Es gab kein Zurück. An dem Tag, an dem sie eine Dichterin
geworden war, war sie in besserer Verfassung für eine Entscheidung gewesen als jetzt. Sie würde ihrem Beschluss von damals mehr trauen als den Zweifeln der Gegenwart.
Sie erreichten das Polizeipräsidium. Eine Einheit von gut hundert Mann wartete bei den Automobilen. Jacobar hielt an und stieg aus. Eiligen Schrittes kam er auf den Inspektor zu, der ihn misstrauisch beäugte. Jacobar zog ein Stück Papier aus seiner Westentasche.
»Keine Sorge«, sagte Morbus, als Apolonia zu einer Frage anhob. »Wir haben eine Kleinigkeit vorbereitet, damit die Polizei uns gehorcht und nicht zu viele Fragen stellt.«
Durch das Fenster beobachtete Apolonia, wie Inspektor Bassar das Papier las, das Jacobar ihm vorhielt. Die beiden Männer standen sich reglos gegenüber; dann drehte Bassar sich zu seinen Kommissaren um und bedeutete ihnen mit einem Wink, in die Wagen zu steigen. Jacobar lief zurück und stopfte das Papier eilig wieder in seine Tasche.
»Was stand drauf?«, fragte Apolonia leise, als sie losfuhren. Die Polizeiwagen folgten ihnen wie dreißig stumme Schatten durch die Straßen.
»Jonathan Morbus gehört unser Gehorsam«, murmelte Nevera. Im Rückspiegel sah Apolonia, dass ihre Tante in sich hineinlächelte. Morbus schien gar nicht hinzuhören und drückte stattdessen Vampa den Revolver ans Ohr. »Also, wo ist der TBK?«
»Im Untergrund«, erwiderte Vampa tonlos.
»Und der Eingang?«
Vampa blickte unruhig zwischen Morbus und Apolonia hin und her. »Was wirst du mit Tigwid machen?«
»Wo ist der Eingang?«, wiederholte Morbus. Apolonia starrte aus dem Fenster. Da hob Vampa matt den Arm und deutete nach vorne. »Gleich hier um die Ecke ist ein Eingang.«
Als sie das leere Haus am Ende der Straße betraten und unter dem Kanaldeckel eine Leiter fanden, nahm Bassar seine Melone ab.
»Der Untergrund … es gibt ihn wirklich.«
»Schicken Sie Ihre Männer los«, befahl Morbus. Bassar starrte ihn erst an, dann nickte er zerstreut und schickte seine Kommissare und deren Männer hinab. Mebb trat dicht neben Bassar.
»Was ist mit Ihnen los?«, flüsterte sie. »Ich dachte, Morbus ist …«
»Wir tun, was er sagt«, erwiderte Bassar, und seine Finger verkrampften sich um seinen Hut. Dann setzte er sich die Melone wieder auf und fasste Mebb am Arm. »Kommen Sie. Ich gehe vor.«
Apolonia, die Dichter und Nevera blieben mit Vampa zurück und warteten, bis die Polizisten hinabgestiegen waren. Die Echos, die zu ihnen heraufdrangen, ließen erahnen, wie groß der Raum unten sein musste. Als alle Männer unten waren, stiegen auch sie hinab.
Die Lampen der Polizisten erhellten einen Kanal, der sich zu beiden Seiten in Finsternis verlor. Die Dichter drängten sich mit Vampa bis nach vorne zu Inspektor Bassar. Dann übernahm Vampa die Führung. Als sie eine Viertelstunde unterwegs waren, sagte Morbus zum Inspektor: »Ich denke, wir brauchen mehr Männer. Noch wissen wir nicht, was uns erwartet. Je mehr wir sind, desto besser.«
Bassar zögerte einen Moment, dann drehte er sich zu Mebb um. »Sie haben gehört. Fahren Sie, so schnell Sie können, zum Präsidium zurück und organisieren Sie
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