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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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würde sagen, bei meiner Nichte wird jetzt Maß genommen. Die Zeit läuft, und in acht Stunden muss das schönste rosenrosa Kleid geschneidert sein, das die Welt je erblickt hat!«
    Der Schneider schob sich die Brille zurecht. »Ich lasse wohl besser meinen Assistenten holen.«
     
    Die Vorbereitungen im Hause Spiegelgold liefen auf Hochtouren. Seit den frühen Morgenstunden schwirrten die Dienstmädchen wie fleißige Bienen zwischen Küche, Flur, Festsaal und den anliegenden Salons umher, schrubbten die Bodenfliesen, bis Marmor und Parkett wie Spiegel glänzten, wischten
Regale, Statuen und Vasen ab und trugen rosafarbene und milchweiße Blumengestecke vom Hinterausgang in alle Zimmer, bis der Duft der Orchideen jeden Winkel des Hauses beherrschte. Der hauseigenen Köchin war eine ganze Mannschaft von Konditoren zu Hilfe gekommen und die Küche hatte sich in ein rauch- und dampfgefülltes Schlachtfeld verwandelt. Befehle und Flüche übertönten fast das Zischen der Töpfe: Irgendjemand hatte dreiundfünfzig Hummer gemopst.
    »Das kann nicht sein!«, zeterte die Köchin und schlug mit jedem Wort ihren Löffel gegen den Herd. »Drei-und-fünfzig Hummer! Verschwunden!«
    »Jesus und Maria im Himmel!« Der Oberkonditor rang die Hände. »Halten Sie den Schnabel! Bei diesem Lärm kann ich nicht arbeiten!«
    Der glühende Blick der Köchin richtete sich erst auf den Konditor, dann auf die unvollendete Torte auf dem Tisch. Aus Angst, sie könne ihre verschwundenen Hummer im Gebäck vermuten, stellte sich der Konditor vor sein Werk. »Sprechen Sie mit Frau Spiegelgold. Jetzt ist es noch nicht zu spät, den Speiseplan zu ändern.«
    Zur selben Zeit waren drei Dienstmädchen damit beschäftigt, die Salons, in denen Herr Spiegelgold später mit seinen Anwalts- und Richterkollegen plaudern wollte, mit genügend Rum und Zigarren auszustatten. Im Saal wurden die Kronleuchter poliert, die Tische zurechtgeschoben, sodass in ihrer Mitte Platz zum Tanzen war, und ein Podest für das Streichquartett errichtet. Ein Stockwerk über all dieser Geschäftigkeit schlüpfte Apolonia noch einmal in ihr neues Kleid, damit der Schneider und sein Gehilfe die letzten Änderungen vornehmen konnten. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel und kam zu dem wohlüberlegten Entschluss, dass sie das Kleid hasste. Dann konnte sie vorerst wieder ihre alten Kleider anlegen. Da ihre Tante gerade damit beschäftigt war, die
Dienstmädchen im Saal anzuherrschen, musste sie sich keine Ausrede ausdenken, um zum Dienstbotenausgang zu eilen.
    Vor der Tür wartete bereits ein bibbernder Konditorgehilfe mit einer großen Holzkiste. Apolonia kam auf ihn zu und befahl: »Aufmachen!«
    Der junge Mann öffnete die Holzkiste und zeigte ihr, dass sie leer war. »Auf mich ist Verlass, hab ich doch gesagt.«
    »Und du hast sie alle zum See gebracht? Lüge mich nicht an, ich erfahre die Wahrheit so oder so!«
    Der Konditorgehilfe hob die Schultern. »Alle dreiundfünfzig krebsen in den Seen und Flüssen vom Park rum. Schwör ich dir.«
    Apolonia maß ihn mit einem abschätzenden Blick, dann zog sie drei Münzen aus ihrer Rocktasche und ließ sie in die ausgestreckte Hand des Konditorgehilfen fallen. »Deinen Schwur brauche ich nicht. Aber dein Schweigen.«
    Der junge Mann lächelte. Selbst wenn er diese Verrücktheit erzählte, würde ihm niemand glauben.
    Zufrieden wandte Apolonia sich um und schritt ins Haus zurück. Später würde sie nachsehen, ob es den Hummern da draußen auch wirklich gut ging.
     
    Als die Herbstsonne hinter den Hausdächern versank, verwandelte die Stadt sich in ein Fleckenfeld aus gelbem Licht und roten Schatten. Innerhalb weniger Augenblicke wurde es dunkel; auf den großen Hauptstraßen im Stadtzentrum erwachten die Straßenlampen mit einem Mal zu knisterndem Leben. In den weniger eleganten Vierteln dauerte es eine Weile, bis die Lichtfrauen und Lampenmänner alle Laternen entzündet hatten. Bald leuchtete die Stadt aus tausend glühenden Augen und erwiderte frech den Blick der Sterne, als wolle sie ihren Glanz übertreffen. In einem Stadtteil, wo die Straßenbeleuchtung bereits modernisiert war, zogen Kutschenkarawanen
durch die Straßen. Hin und wieder überholte ein Automobil die Pferde und drängte sich in einem aufreißerischen Kurvenmanöver vor die Tiere. Rings um das Haus Spiegelgold fanden sich vornehme Gestalten zusammen und stiegen in lachenden und plaudernden Trauben die steinernen Treppen zur Haustür empor. Bald hielt das

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