Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
es so leicht wäre«, erwiderte er. »In unseren Rängen der Gesellschaft findet sich heute keine ehrbare Dame mehr. Und die, die noch nicht moralisch verdorben sind, sind prüde und langweilig oder abstoßend … Ich frage mich inzwischen, ob das Heiraten in unserer Zeit der Dekadenz und Heuchelei überhaupt noch sinnvoll ist.«
Muriella tätschelte ihrem Bruder beschwichtigend den Arm. Dann tauchten zwei Männer neben ihnen auf, deren blasierte Blicke Valentins verblüffend ähnlich waren. Sie stellten sich als Studenten und Freunde Valentins vor.
»Bildung!«, schwärmte Muriella mit einem leuchtenden Seitenblick auf einen der beiden Neuankömmlinge. »Wie hochinteressant ! Soeben haben Apolonia und ich davon gesprochen, nicht wahr? Was hast du mich noch gefragt? War es nicht irgendwas Lateinisches?«
Apolonia machte gerade den Mund auf, als ihr Valentin ins Wort fiel.
»Numquam patietur, mihi credite. Novi violentiam, novi inpudentiam, novi audaciam. Das ist von Cicero und bedeutet: Niemals wird er das zulassen, glaubt mir! Ich kenne seine Gewalt, seine Unverschämtheit, seine Kühnheit . Dieser Spruch bezieht sich natürlich auf mich und Vaters Wunsch, dass ich heirate.«
Valentins Freunde klatschten leise in die Hände und schenkten ihm ein anerkennendes Lächeln.
»Hm«, machte Apolonia. » Seine Unverschämtheit . Amüsant.«
»Latein ist zweitausend Jahre die Sprache der Könige und Gelehrten gewesen«, fuhr Valentin fort und betrachtete seine Fingernägel.
»Und nun ist Latein die Sprache der Toten.« Apolonia lächelte.
»Valentin, du musst verstehen«, schaltete sich schnell Muriella ein, »Apolonia war nie besonders herausragend in Latein. Sprachen sind wohl einfach nicht ihre Stärke …«
»Nun«, sagte Apolonia ungehalten, »Myeddra senviel arth vera sena.«
»Wie bitte?« Valentin und seine Freunde runzelten die Stirn. Muriella neigte leicht den Kopf nach vorne und stierte Apolonia mit dem Verständnis eines Wildschweins an.
»Irvena senja noviel arth; mora nevra evell turo madva, sevell misuro ectera vera nivio mac renyo seva dina reh.« Sie holte tief Luft. »Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
»Und welche Sprache soll das gewesen sein?«, fragte einer von Valentins Freunden.
»Natürlich kann ich nicht erwarten, dass Sie das wissen. Soeben sind Sie in den Genuss gekommen, Morveda zu hören, eine südamerikanische Sprache, die vor allem im tropischen Raum weit verbreitet ist, ihre Wurzeln aber weiter im Norden hat und mit zahlreichen weiteren Ursprachen verwandt ist.«
»Und wollen Sie uns auch verraten, was Sie soeben gesagt haben?« Valentin nahm einen Schluck Champagner.
»Ich nannte Sie einen Fanfaron, der, verglichen mit vergleichsweise ähnlich fadisierenden Verwandten, viel vermögender und infolgedessen befähigt ist, frevelhaftes Fehlverhalten im großen Format an den Tag zu legen«, rasselte Apolonia in einem Atemzug runter.
Mehrere Augenblicke lang schwiegen alle.
»Ah. Beeindruckend.« Ein Lächeln kroch über Valentins Pferdegesicht. »Sie können also, nach langen Studien, wie ich vermute, primitive Barbaren verstehen, die am anderen Ende der Welt im Dschungel leben.«
»Glauben Sie mir, ich kann auch primitive Barbaren in meiner unmittelbaren Nähe verstehen, und ein Verständnis für das Primitive ist fürwahr eine Kunst. Vielen Dank. Entschuldigen Sie mich nun, meine Tante wartet.« Damit drehte Apolonia sich um und ging beschwingten Schrittes davon.
Es war ein Armutszeugnis, wenn man eine aus dem Stegreif erfundene Sprache für echt hielt, die »Morveda« hieß, aber wenn man nicht mal merkte, dass man in seiner eigenen Sprache ein langweiliger Prahlhans genannt wurde, war das mehr als bedauernswert.
Das muss ich in meine Memoiren aufnehmen, dachte Apolonia amüsiert. Kein Wissen der Welt nützt etwas ohne den Mut zum Bluffen!
Lieferung in der Nacht
N evera Spiegelgold stand, umringt von ihren Gästen, unter den glitzernden Kronleuchtern und unterhielt sich blendend. Hin und wieder tanzte sie mit Elias Spiegelgold und die restlichen Tanzpaare bildeten einen ehrerbietigen Kreis um sie; dann ließ Nevera sich wieder von den schmeichelnden Worten ihrer Freunde einlullen. Als sie Apolonia in der Menge entdeckte, winkte sie sie zu sich heran.
»Gerade eben haben wir von dir gesprochen, Liebes«, sagte sie, nachdem alle Anwesenden ihre Bewunderung für Apolonias Kleid ausgedrückt hatten.
»Es ist wirklich so großzügig«, sagte eine spitznasige
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