Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
hast!«
»Ja, Frau Spiegelgold.«
»Ach, halt!« Nevera schnippte mit den Fingern und wies auf den Kamin. Das Dienstmädchen holte den Zigarettenhalter vom Kaminsims, steckte eine neue Zigarette hinein und zündete Nevera ein Streichhölzchen an.
»Madame?«
»Danke, du kannst gehen. - Pedro, los!«
Der Diener nickte und begann, dem Flügel eine fröhliche Melodie zu entlocken. Nevera summte leise mit und blies den Rauch zur Seite. Dann lächelte sie.
»Das bleibt unter uns, Liebes. Dein Onkel sieht es nicht gerne, wenn ich rauche, das weißt du ja. Er findet es unschicklich.« Nevera zuckte die Schultern. Der Schneider stieß einen leisen Schrei aus, als sich der Stoff verzog und ihm die Nadel
in den Finger stach, aber Nevera bemerkte es nicht. »Unschicklich, Grundgütiger, die ganze Welt benimmt sich unschicklich! Das bisschen Rauch, das geht ihm zu weit. Dabei pafft er dreimal so viele Zigarren wie ich Zigaretten. Und fragt er sich, ob ich das für schicklich halte? Pah, Männer!« Sie lachte und blickte der Asche nach, die dem Schneider aufs ergraute Haupt rieselte. Glucksend sah sie Apolonia an. »Gott sei Dank ist beides grau, da merkt man nichts!«
Apolonia räusperte sich. »Sie tragen ein eindrucksvolles Kleid, Tante.«
Von oben bis unten blitzte Nevera vor Perlen, Strass und himmelblauer Seide. Man hätte meinen können, sie habe sich ihren ganzen Reichtum an die Haut kleben wollen - im Grunde war auch genau das ihre Absicht gewesen.
»Oh, danke, Liebes«, sagte Nevera und drehte sich leicht hierhin und dorthin, um die Pose zu finden, in der ihr Kleid am meisten Licht reflektierte. Der Schneider versuchte verzweifelt, ihr mit der Nadel zu folgen. »Ich habe mir eben gedacht, man hat nur einmal achten Hochzeitstag. Mein Kleid im letzten Jahr war gegen dies hier ein Fetzen, falls du dich erinnern kannst, ganz zu schweigen von dem armseligen Bettelkleid, das ich an meinem Geburtstag getragen habe, oder dem Silvesterkleid letzten Winter. Apropos Silvester: Was hältst du davon, wenn wir das Gleiche tragen? Ich dachte an etwas …«, Nevera blickte zur Zimmerdecke hoch und öffnete die Hände in Erwartung einer göttlichen Eingebung, »… etwas Champagnerfarbenes . Mit einem spitzen Ausschnitt vorne und hinten. Ärmellos für mich, aufgebauschte Taftärmel für dich. Was sagst du?«
Apolonia atmete tief ein. »Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich fühle mich geehrt, dass Sie sich so um mich kümmern, aber ich fürchte, Mode ist an mich verschwendet. Und bevor Sie sich weiter bemühen, bitte ich Sie um die Erlaubnis,
in einem der Kleider zu erscheinen, die ich schon besitze. Etwas Neues wäre unnötig.«
Nevera starrte sie an, als hätte Apolonia ihr offenbart, sie wolle Bergarbeiter werden. Erst als der Schneider auffuhr und sich glühende Funken aus den Haaren schlug, senkte Nevera ihren Zigarettenhalter und fand ihre Stimme wieder.
»Und … was hast du zum Anziehen?«
»Was ich trage, reicht mir aus.«
» Das?« , entfuhr es Nevera. Eine Weile rangen verschiedene Gefühlsregungen in ihrem Gesicht, dann setzte sich Mitleid gegen Verblüffung und Verständnislosigkeit durch.
»Oh … mein Liebes !« Sie stieg vom Hocker, um Apolonia in die Arme zu schließen. »Mein hübsches, kleines Ding ! Du denkst, dass du nichts Besseres verdienst als das. Aber glaube mir«, sagte Nevera mit süßer, eindringlicher Stimme, »es ist dein Recht, mehr als eine kleine Krähe zu sein. Du wirst sehen, was sich aus dir machen lässt.«
»Danke«, knirschte Apolonia.
»Na, na, nichts zu danken. Natürlich sorge ich dafür, dass aus der einzigen Tochter meiner lieben Schwester eine Dame wird, das ist doch selbstverständlich!« Nevera legte beide Hände um Apolonias Gesicht und musterte es wie einen fremdartigen Stoff, bei dem sie sich noch nicht sicher war, ob er zu einem schönen Kleid taugte.
»Deine Mutter!«, seufzte Nevera, als sie offenbar vergeblich in ihrem Gesicht nach ihr gesucht hatte. »Viel zu früh hat sie diese Welt verlassen müssen, nicht wahr? Und du armes Ding bist ganz ohne Mutter aufgewachsen … Woher solltest du auch wissen, wie man sich benimmt? Du musstest ja aufwachsen wie ein wildes Unkraut, ganz ohne jemanden, der diese widerspenstigen Zweige und Blätter stutzt.« Dabei zupfte sie an Apolonias Haaren und strich ihr vorne einen Mittelscheitel, so wie Apolonia es hasste.
»Nun ja, ich hatte schließlich noch Vater. Und Trude«, erwiderte sie. Nevera runzelte die Stirn, als
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