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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Klingeln inne: Die Türen wurden gar nicht mehr geschlossen.
    Dienstmädchen mit blütenweißen Schürzen und gestärkten Hauben nahmen so viele Pelzmäntel, Stolen, Mäntel und Jacketts in Empfang, dass man damit Geschäfte hätte eröffnen können. Sobald sich die Gäste ihrer wärmenden Hüllen entledigt hatten, strömten sie glitzernd und schillernd wie geschlüpfte Schmetterlinge weiter Richtung Festsaal. Im Schein der Kronleuchter war das Gefunkel der Kleider, Krönchen, Kolliers und Ketten so blendend, dass Apolonia, die am oberen Absatz der Wendeltreppe stand, die Augen verengte. Offenbar dachten all die eitlen Gänse wirklich, dass sie als wandelnde Glühbirnen attraktiver waren. Doch sosehr sie sich auch anstrengten - Nevera Spiegelgold hatte dafür gesorgt, dass sie zumindest in dieser Hinsicht keine übertreffen konnte. Um ihre Arme schlossen sich breite Silberarmbänder mit eingehängten Perlen, und ein Kollier aus Weißgold mit mehreren dunkelblauen Saphiren machte sie um mindestens zwei Kilo schwerer. In ihren Haaren, die zu einer kunstvollen Hochfrisur aufgesteckt waren, funkelte ein Weißgolddiadem, das ihr mit Perlen in die Stirn hing und auf der Spitze einen daumengroßen Saphir präsentierte. Mit überschwänglicher Freude und den Gebärden einer Königin nahm sie die Geschenke ihrer Gäste entgegen und übergab sie nach zahlreichen Dankesworten einem Dienstmädchen, das die Gaben zu einem Turm aufbaute.
    Elias Spiegelgold stand neben ihr und begrüßte wesentlich zurückhaltender. Sein spärliches hellbraunes Haar war glatt zurückgekämmt
und sein Gesicht mit den spitzen Augenbrauen und dem breiten Kinn war zu einem steifen Lächeln verzerrt. Mit Händeschütteln begrüßte er seine Gäste, einige der bedeutendsten Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft.
    Obwohl Elias Spiegelgold als Sohn der Spiegelgold’schen Buchhandelsdynastie bereits in höhere Kreise geboren worden war, hatte er sich seinen Status und sein Vermögen hauptsächlich selbst erarbeitet. Alois Spiegelgold, der Erstgeborene, hatte das Familienunternehmen geerbt, und wie es für jüngere Söhne aus gutem Hause nicht unüblich war, schlug Elias die Laufbahn eines Juristen ein. Sein großer Erfolg war vor acht Jahren eingetreten, zeitgleich mit der Tragödie seines älteren Bruders.
    Damals hatte eine hochgefährliche Terroristenvereinigung namens TBK - der Treue Bund der Kräfte - das Parlamentsgebäude samt allen anwesenden Regierungsmitgliedern in ihre Gewalt gebracht und versucht, die Macht an sich zu reißen. Als der größenwahnsinnige Plan scheiterte, hatten trotzdem nur drei TBK-Mitglieder gefasst werden können. Elias Spiegelgold, der mittels seiner vorzüglichen Kontakte gerade Staatsanwalt geworden war, forderte für die drei Terroristen die Todesstrafe. In jenen Tagen wurde die Frage, ob eine solche Art der Bestrafung einem modernen und humanen Zeitalter entspreche, gerade heftig debattiert, und Elias Spiegelgold wurde über Nacht zur glorreichen Verkörperung eines altehrwürdigen Rechtsempfindens. Seiner Forderung nach der Höchststrafe wurde stattgegeben. Die drei Terroristen waren bis heute die letzten Sträflinge in der Geschichte der Republik geblieben, die den Tod durch den Strang fanden. Elias Spiegelgold aber hatte sich damit zum meistgefürchteten Gesetzeshüter und engen Freund allerlei konservativer Politiker emporgeschwungen. Im gleichen Jahr hatte er Nevera, die Schwester seiner verstorbenen
Schwägerin, geheiratet - sie lernten sich auf Magdalenas Beerdigung kennen.
    »Apolonia … Pst!«
    Apolonia drehte sich um und entdeckte Trude, die im Korridor stand und in den Saal hinabspähte.
    »Was tun Sie hier?«, flüsterte das Kindermädchen. »Nun gehen Sie schon, mein Fräulein, na los!«
    Apolonia war ganz verdattert darüber, dass Trude ihr Befehle erteilte, doch ausnahmsweise folgte sie der Aufforderung. Nach kurzer Überwindung schritt sie die geschwungenen Treppenstufen hinab, sich ihres Aufzugs peinlich bewusst. Sie hatte sich bis dato nie öffentlich in einem bonbonfarbenen Kleid sehen lassen, und zwar aus gutem Grund. Die knallige Farbe machte aus ihr eine bleiche Bohnenstange, die hübsch aussehen wollte und kläglich gescheitert war. Schon rief jemand ihren Namen. Aus der Menge schälte sich ein bekanntes Gesicht.
    »Nein, was für ein Zufall.« Das Mädchen verzog die Lippen zu einem lahmen Lächeln. Sie war so alt wie Apolonia und trug das goldene Kreuz um den Hals, das jede Schülerin

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